35.- Sterne, Strand und Meer

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"Noah, lass mich los.", forderte ich ängstlich, aber auch entschlossen. Aber er ließ mich nicht los, stattdessen umarmte er mich fest, sodass ich mich nicht einmal befreien konnte. Jetzt fühlte es sich nicht mehr nur ungewohnt an, wenn er mich umarmte, sondern einfach nur noch schlecht. Ich wollte schreien, aber er hielt mir den Mund zu.. "Du bist doch selbst Schuld. Von mir aus hätten wir warten können, aber du musstest ja unbedingt auf Ryan reinfallen." Ich schrie gegen seine Hand an, zappelte, versuchte nach ihm zu treten oder zu schlagen, aber es half nichts. 

Als ich dachte, Noah würde gleich komplett austicken, wurde er am Kragen von mir weggerissen. Ich wimmerte leise und ließ mich am Strandkorb in den Sand rutschen. Einzelne Tränen kullerten meine Wangen herunter und ich sah nur verschwommen, wie er zu Boden geschmissen und dann auf ihn eingeprügelt wurde. "Du kleiner Pisser!" Das war eindeutig Ryans Stimme. Er schlug immer weiter auf ihn ein und erst als ich mich wieder einigermaßen gefasst hatte, schritt ich ein, damit er ihn nicht noch umbrachte. "Ryan, hör auf!" Aber er höre nicht auf. Er wirkte in dieser Sekunde einfach unerreichbar für mich, wie in einer Art Trance. "Ryan." Ich schüttelte zaghaft an seiner Schulter, aber keine Reaktion. 

"Ryan. Bitte.", flehte ich verzweifelt. Ich drehte ihn an der Schulter langsam zu mir um und flüsterte mit heiserer Stimme. "Es ist okay. Mir gehts gut." Erschöpft stand er auf und auch Noah erhob sich zitternd. Seine Nase war blutig und seine Lippe aufgeplatzt. Außerdem würde er morgen bestimmt ein blaues Auge haben. Wie konnten die beiden bloß mal beste Freunde gewesen sein? Wie konnte Noah ein Freund von mir gewesen sein? 

Ryan stellte sich etwas vor mich, sodass ich Noah nicht angucken musste, was mir nur Recht war. "Du hattest deine Chance, Avery. Aber wenn du es nicht sehen willst..." Er ließ den Satz in der Luft hängen, spuckte etwas Blut aus und ging dann zurück zu den Zelten. Aufgebracht begann ich erneut zu schluchzen. "Warum ist er so, Ryan?" Ryan schüttelte nur unwissend mit dem Kopf und kam einige Schritte auf mich zu. "Ich weiß es nicht. Sonst alles okay bei dir?" Ich nickte, wenn auch etwas zögerlich. Ohne Vorwarnung war es dieses Mal Ryan, der mich umarmte. Aber es fühlte sich anders an, irgendwie. Wärmer und sicherer. Mit etwas Verzögerung schlang ich meine Arme auch um ihn und weinte in sein T-Shirt, das nach ihm roch. 

Er war einen Kopf größer als ich, weswegen er seinen Kopf nach einiger Zeit auf meinem ablegte. In diesem Moment hätte wohl nichts beruhigender wirken können, als Ryans Sicherheit und Wärme. Mein Tagebuch war vergessen. Noah war vergessen. Der Unbekannte war vergessen. 

"Komm mit.", sagte er nach einiger Zeit lächelnd und nahm meine Hand in seine. "Wo-wo gehen wir hin?" Ich wischte mir die Tränen aus den Augenwinkeln. Ich hätte jetzt sagen können, ich sah aus wie ein Panda, aber ich trug so schon keine Schminke, geschweige denn in der Nacht. Also musste ich mich mit geschwollenen, roten Augen und Flecken auf meinen Wangen zufrieden geben.

"Wirst du schon noch sehen."

+++

Wir waren bestimmt eine halbe Stunde bergauf gegangen, als ich schnaubend anhielt. "Können wir eine Pause machen?" "Wir sind gleich da. Du solltest vielleicht etwas mehr Sport machen.", antwortete er belustigt und zog mich noch einige Meter einen Berg hinauf. Wir waren durch einen kleinen Wald gegangen, ich wäre fast hin geflogen und dann hatte Ryan mir auch noch versehentlich einen Ast ins Gesicht gepeitscht. 

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das heute noch gut enden würde. Aber als wir dann durch die letzten Bäume vorgedrungen waren, hielt ich dem Atem an. Vor uns ging es steil den Fels nach unten, dann kam der lange Sandstrand und dahinter das Meer, das von den Schiffen mit ihren bunten Lichtern erleuchtet wurde. "Wow.", flüsterte ich begeistert und strahlte fast genauso, wie die Sterne über uns. "Ich war hier früher einige Mal mit meinen Eltern, bevor ihnen das Geld wichtiger geworden ist." 

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, also schwieg ich. Ich denke manchmal musste man nicht antworten, wichtig war, dass man überhaupt zuhörte. Wir hingen beide unseren Gedanken her. Ich dachte an den Ball, der diesen Freitag stattfand, an Noah und an meinen Dad. Und Ryan? Wer wusste schon was Ryan dachte?

Als es schätzungsweise halb drei war, liefen wir am Strand wieder zurück zum Campingplatz. Plötzlich wurde ich gepackt und schon lag ich in Ryans Armen, der seltsamerweise kein T-Shirt anhatte und auf das Wasser zu rannte. "Ryan, das wagst du dir ni-" Und schon lag ich im knietiefen Wasser, das wirklich kalt war, dafür, dass wir Sommer hatten. Ich bibberte vor Kälte und zitterte, aber Ryan lachte bloß. "Lach nicht, Idiot." Er bekam eine Hand des salzigen Wassers ins Gesicht und sah das als Einladung, eine Wasserschlacht zu beginnen. Quietschend schwamm ich hinaus, bis ich keinen Boden mehr unter meinen Füßen spürte. 

Als er mich erreichte, schaute er mich nachdenklich an. Seine dunklen, glitzernden Augen schauten einige Sekunden in meine und dann wanderte sein Blick auf meine Lippen, bevor er meinte:" Wir sollten raus, deine Lippen sind schon ganz blau." Ich nickte und schaute ihm abwesend zu, wie er aus dem Wasser sprintete. Ich schluckte und fragte mich, warum mir gerade unglaublich warm geworden war, obwohl das Wasser doch verdammt kalt war. "Kommst du?" Ryan riss mich aus meinem Dämmerzustand und ich schwamm auch zurück ans Ufer. Draußen war es sogar noch kälter, als ich gedacht hatte. "Hier, zieh das an." Er reichte mir sein Shirt, das er vor unserer Wasserschlacht ausgezogen hatte. "Schon gut.", winkte ich ab. Es war mir unangenehm, das T-Shirt eines fast Fremden einfach so anzuziehen. 

"Avery, zieh es an, sonst mache ich es." Stöhnend riss ich ihm das Shirt aus der Hand. "Dreh dich um.", forderte ich ihn auf, was er dann auch grinsend, soweit ich das in der Dunkelheit erkennen konnte, tat. "Und wehe du guckst." Ich zog mir das Shirt über und mir wurde gleich mulmig warm. Ob er dafür einen bestimmten Weichspüler benutzte? Am Liebsten hätte ich gesagt, dass ich es behalte, aber das würde ich mich nie trauen. 

Kurz bevor wir bei den Zelten ankamen, hielt mich Ryan am Handgelenk zurück und zog mich neben sich. Als er mit einem so intensiven Blick anstarrte, wendete ich meinen ab und fixierte meine Füße. "Meinst du, du wirst es mir jemals verzeihen können?" Mein Kopf schoss nach oben und ich fragte:"Was verzeihen?" "Alles."

"Ich weiß nicht.", flüsterte ich Schulter zuckend, obwohl ich tief in meinem Inneren wusste, dass ich das bereits hatte. 

The lost Diary  #WattyCompetitonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt