7. Rückfall

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Nach einer Weile, während der wir reden, bringt Jim mich zur Bus und wartet mit mir bis der nächste kommt.
"Ich hoffe, dass wir uns bald wieder sprechen", meint er und schaut mich an.
"Das fände ich schön", antworte ich und lächle, da kommt mein Bus und ich muss einsteigen.
"Bis demnächst Jim."
Ich winke ihm nochmal kurz zu und er hebt die Hand, dann fährt der Bus ab und lässt Jim alleine an der Haltestelle stehen. Nachdenklich lehne ich mich gegen eine Haltestange und versuche meine Gedanken unter Kontrolle zu bringen.
Einerseits mag ich Jim, finde ihn nett und sympathisch, und irgendwie auch niedlich, doch andererseits warnen mich meine Erfahrungen vor ihm. Ich versuche dies als Überreaktion abzutun, doch gleichzeitig weiß ich, dass etwas an ihm tatsächlich anders ist. Aber ich kann beim besten Willen nicht erkennen, was.
Schließlich komme ich zu meiner Haltestelle und steige aus dem Bus, der ratternd die Straße weiterfährt.
Oben in meiner Wohnung hänge ich meine Jacke auf und schaue auf die Uhr. Es ist kurz nach fünf, ich habe also noch fünf Stunden Zeit bis ich meine Telefon Verabredung mit Katie habe. Hunger habe ich keinen also setze ich mich ins Wohnzimmer, nehme mir ein Buch und lese eine Zeit lang.
Endlich ist es soweit und ich rufe Katie an. Wir erzählen und reden die halbe Nacht lang, ungeachtet der Telefonrechnung. Denn das ist noch so eine Sache, die Katie mir spendiert, zusammen mit meiner Busfahrkarte und - vorläufig - meine Strom- und Wasserrechnung. Ihre Eltern sind sehr viel wohlhabender als ich es je sein werde, weswegen sie keine Probleme damit hat, mir finanziell unter die Arme zu greifen. Doch wenn alles gut läuft werde ich ihre Hilfe bald nicht mehr brauchen.
Nach mehreren Stunden beenden wir das Gespräch, da ich mittlerweile so müde bin, dass ich bereits in mein Zimmer gegangen bin, um nicht irgendwo einzuschlafen.
"Bis bald, Katie", verabschiede ich mich murmelnd und lege auf. Kaum berührt mein Kopf das Kissen bin ich auch schon eingeschlafen.

* * *

Zwei Monate ziehen ins Land. Ich telefoniere ab und zu mit Jim, treffe mich jeden Samstag mit ihm persönlich und erhalte meine ersten zwei legalen Gehälter meines Lebens. Obwohl ich nun eigenes Geld besitze lässt Katie sich nicht davon abbringen weiterhin meine Telefonrechnungen zu bezahlen.
"Irgendwas muss ich doch tun. Wenn ich schon nicht mehr bei dir bin."
Durch den Kontakt mit Jim und den regelmäßigen Gesprächen mit Katie spüre ich, wie ich mich etwas mehr öffne und freundlicher werde, wenn auch kaum merklich für Aussenstehende.
Alles läuft wunderbar und ich glaube fast schon, dass ich meine dunklen Zeiten hinter mir gelassen habe, als sich etwas ändert.
Meine Kollegen am Arbeitsplatz haben angefangen mich zu mögen und auch ich bin ihnen gegenüber aufgeschlossener. Was aber auch an Jim liegt. Dank ihm fühle ich mich so gut wie schon lange nicht mehr, auch wenn ich das kaum glauben kann. Katie weiß immernoch nichts von ihm, ausser dass ich jemanden kennengelernt habe, da ich ihr von ihm nichts erzählen möchte. Und gerade jetzt ist er mir als Freund kostbarer als je zuvor.
Es ist ein bewölkter Freitagnachmittag als ich Feierabend mache und mich umziehe.
Gerade bin ich fertig, da kommt der neue aus dem Team, Mike, in die Umkleide. Sofort erstarre ich und starre ihn erschrocken an, denn das hier ist die Damenumkleide.
"Ähm, Mike, das ist die falsche Umkleide...", mache ich ihn darauf aufmerksam, aber meine Stimme zittert leicht und ich bekomme Angst. Mike macht keine Anstalten umzudrehen, sondern schaut mich an und schließt die Tür hinter sich.
Er ist muskulös, sonnengebräunt und hat schwarze Haare. Eigentlich sieht er gut aus, sehr gut sogar, aber ein düsteres Grinsen macht dies zunichte.
Mit Schrecken beobachte ich, wie er langsam auf mich zukommt und richte mich unwillkürlich auf. Panik droht mich zu überwältigen und ich schlucke, bemühe mich aber mich zusammenzureißen.
"Mike, du machst mir Angst. Verschwinde!", sage ich ausdrücklich, doch noch immer macht er keine Anstalten zu gehen. Stattdessen kommt er noch näher zu mir und ich weiche zurück, bis ich mit dem Rücken gegen den Spind hinter mir stoße.
"So ängstlich. Du gefällst mir", sagt Mike mit tiefer Stimme und ich registriere, dass er ein Messer aus seiner Tasche holt. Meine Augen weiten sich. Das kann nicht sein, das kann nicht passieren. Nicht schon wieder!
"Was soll das?"
Da bemerke ich das hungrige Glitzern in seinen Augen und wie er das Messer handhabt.
Im Team war er nie besonders gesprächig und wurde von den anderen schnell als unnormal und seltsam eingestuft. Doch ich habe ihn verstanden, auf eine seltsame Art und Weise. Nun erkenne ich, was er wirklich ist, was er hinter seiner ruhigen Fassade verbirgt.
Schlagzeilen der letzten Zeitung schwirren vor meinem inneren Auge herum. Zwei junge Frauen, erst tödlich verletzt, dann vergewaltigt und schließlich dem Tod überlassen. Jim hat mich sogar noch gebeten vorsichtig zu sein, doch ich habe mir dabei nichts gedacht.
"Du bist das gewesen!", stoße ich hervor und Mike grinst genüsslich.
"Schlaues Mädchen. In der Tat, das war ich. Aber das nützt dir jetzt auch nichts mehr."
"Du bist ein verdammter Psychopath!", rufe ich, und Mike kommt drohend auf mich zu, ein wütendes Leuchten in den Augen.
"Nenn mich niemals so!"
Der Hass in seinen Augen durchbohrt mich und ich schlucke. Gerade will Mike noch näher kommen, da stürmen bewaffnete Polizisten den Raum und er wirbelt herum. Ich habe keine Ahnung wieso, woher oder warum sie da sind, aber ich war noch nie so froh diese Männer zu sehen.
"Hände hoch, Polizei! Die Waffe fallen lassen! Auf die Knie! Hände hinter den Kopf!", brüllt der erste und Mike flucht, dann fügt er sich während ich geschockt auf die Männer starre.
"Alles gut Miss. Sie sind in Sicherheit", redet ein Beamter auf mich ein, doch ich bemerke ihn gar nicht wirklich. Der Schreck sitzt mir in den Gliedern und vor meinem inneren Auge läuft ein grausiger Film ab. Der Film meiner Erinnerungen.
"Ich... ich möchte nach Hause", bitte ich und werde sogleich nach draußen geführt.
Kaum bin ich an der frischen Luft, renne ich los, ungeachtet der überraschten Ausrufe einiger Leute. Ich renne nicht zum Bus, sondern weiter, in Richtung zu Hause. Tränen laufen über mein Gesicht und die Erinnerungen reißen mich wieder in das dunkle Loch in meiner Persönlichkeit zurück.
Nach einer Ewigkeit gelange ich an mein Haus, ganz ausser Atem, stürme die Treppen hinauf und schließe mit zitternden Händen die Tür auf. Knallend schließe ich sie hinter mir, eile in die Küche und reiße meinen Küchenschrank auf. Verzweifelt räume ich alles heraus, Gewürze, Tees und vieles mehr, bis ich endlich finde was ich suche. Ein flaches Metallkästchen.
Ich hole es heraus und betrachte es in meiner Hand. Die Versuchung ist groß, alles zu vergessen, und sei es nur für ein paar Stunden. Die Angst in mir und meine Panik nehmen mir die Entscheidung schließlich ab. Doch nicht hier.
Kurzerhand stecke ich das Kästchen in meine Manteltasche, verlasse die Wohnung und das Haus und gehe mit zügigen Schritten die Straße entlang zu einem alten Baugrundstück. Das darauf angefangene Haus ist verlassen und leer, der Bauzaun ist an vielen Stellen eingerissen und löchrig. Es ist mir ein leichtes auf das Grundstück zu kommen und in das Gebäude zu schlüpfen. Schon traurig, dass ich solche Dinge durch Erfahrung einfach weiß.
Ich laufe die einfachen Holzstufen hinauf in den zweiten Stock und gelange in einen durch wenige Wände abgetrennten Raum. In zwei Ecken liegen bereits Junkies und dämmern in ihrem Rausch vor sich hin. Ich suche mir eine ruhige Ecke und lasse mich an der Wand zu Boden gleiten. Das was ich gleich tun werde habe ich Katie geschworen niemals wieder zu tun, aber heute halte ich es nicht mehr aus. Deshalb das Kästchen.
Dieses befindet sich nun wieder in meiner Hand und ich ziehe mir meinen Mantel aus, um mich darauf zu setzen. Ich klappe den Deckel hoch und betrachte stumm das, was darin liegt.
"Es tut mir leid, Katie", flüstere ich.
Vorsichtig nehme ich die Spritze aus ihrer Vertiefung und bereite alles mit geübten Bewegungen für die Injektion vor. Das habe ich schon viel zu oft gemacht.
Ich krempele den Ärmel hoch damit ich an meine Armbeuge herankomme und streiche mit einem Finger über die weiche Haut. Entkommen, für ein paar Stunden dem Leid und der Angst entkommen...
Entschlossen setze ich die Nadel an meiner Armbeuge, schließe die Augen und steche zu. Ein kurzer, pieksender Schmerz durchzuckt mich, doch dann fühle ich, wie die Droge in meinen Körper strömt und mir die Augen zufallen. Ein angenehmes Gefühl breitet sich in mir aus und meine Probleme sind plötzlich nicht mehr existent. Auch das Schuldgefühl wegen Katie verschwindet. Ich fühle mich besser als jemals zuvor.

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Moriarty In Love Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt