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Die Morgensonne stieg im Dunst des Nebels über dem Goldsee auf.

Überall am Ufer hatten sich Menschen allein oder in Grüppchen schlafen gelegt und selbst die letzten Feierwütigen mussten den Folgen des Alkohols nachgeben. Wer nicht schlief oder weitgehend nüchtern war, kotzte sich im angrenzenden Wald die Leber aus dem Leib. Ich schämte mich für meinen Jahrgang. Was warf das für ein Licht auf diese Welt?

Joshua und ich hatten auf dem Steg gesessen und den Farben am Horizont beim Wechsel zugesehen. Wir waren nicht müde - im Frühling musste es wahrscheinlich erst Nachmittag sein. Jetlag? Ich lächelte meinem Spiegelbild im ruhigen Wasser entgegen. Langsam holte mich dennoch die Erschöpfung ein.

"Hey, Joshua?" Ich drehte mich zu ihm. Er lag mit dem Rücken auf dem Steg und schaute im blassvioletten Himmel auf den sinkenden Mond. Unter uns plätscherte das Wasser sachte gegen den Steg.

"Ja?" Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

"Wollen wir zu mir nachhause? Hier läuft nichts mehr und ich glaube, ich werde müde..." Fragend blickte ich auf Joshua hinab, der sich so leichtfertig erhob, als hätte er eine Ferienreise hinter sich, statt einer Hetzjagd, die in einer fremden Welt geendet hatte.

Am Horizont leuchtete ein Blitz auf. Ein tiefes Grollen folgte einige Sekunden später. Ich wollte fort von dem See, auch wenn das Gewitter noch meilenweit entfernt war. Ich erinnerte mich noch zu gut an die Blitze über dem Goldsee der anderen Welt und meine unsanfte Ankunft.

"Ist vielleicht besser." Auch Joshua hatte den Blick auf die nachtschwarzen Wolken hinter den Baumwipfeln gerichtet. "Einverstanden."

Ohne ein weiteres Wort, um niemanden zu Wecken, umrundeten wir den halben kleinen See und sammelten unsere Taschen und Umhänge ein. Joshua fuhr gedankenverloren über die Klinge seines Degens.

"Den würde ich vor anderen Menschen nicht zu offen zeigen", flüsterte ich bedauernd.

"Warum? Es ist ein Ehrensymbol."

Ich zog die Schultern hoch. "Hier ist es eine Waffe. Sogar manche Messer sind verboten. Man darf sie nicht einfach so mit sich führen."

Joshua gab sich geschlagen und wickelte das schmale Schwert aus Elfeneisen in den dunkelroten Umhang des Frühlings.

Im blassen Licht der Morgendämmerung spazierten wir durch die nebelverhangene Landschaft, die lange Straße zum See entlang, vorbei an einer schlafenden Lilian, bis wir endlich auf die Bushaltestelle am Industriegebiet stießen.

Seufzend sank ich auf die niedrige Metallbank in dem kleinen Glasunterstand, während Joshua schweigend die für ihn komplizierten Fahrpläne und Zeitentabellen studierte. Sein Blick schweifte immer wieder zu der großen, grauen Lagerhalle, die über den Baumwipfeln auf der anderen Straßenseite aufragte. Ab und an raste ein LKW an uns vorbei. Joshua fragte gar nicht erst, er rieb sich nur jedes Mal die Augen, als könne er ihnen nicht mehr trauen.

Gähnend ließ ich den Kopf hängen.

"Müde?" Joshua funkelte mich an und ließ sich neben mir nieder. Nickend lehnte ich mich an seine Schulter. Die letzten Wochen forderten ihren Tribut. Ich konnte es gar nicht erwarten, zuhause in mein warmes, weiches und vor allem eigenes Bett zu fallen.

Joshua legte die Arme um mich und hielt mich fest. Diese Geborgenheit wirkte einschläfernd.

"Mayra? May, wach auf!" Joshua rüttelte mich sanft aus dem Dämmerschlaf. Der erste Bus ab Betriebsbeginn fuhr vor das Haltestellenhäuschen und ein nicht wirklich ausgeschlafen aussehender Busfahrer schaute uns auffordernd durch die geöffneten Türen an.

Golden FairytaleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt