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Conner und ich kletterten den steilen, klippenähnlichen Hang hinab. Nach den ersten Metern wurde es einfacher und das Gefälle flacher, bis wir mühelos über die Wiese an das Wasser laufen konnten.

Es war dunkel, blau-schwarz. Als ich mich hinüberbeugte, verlor sich mein Blick in dem Wasser, konnte keine Entfernung fassen, beinahe wie wenn man im Sommer in den Zenit des stahlblauen Himmels schaute. Meine Augen konnten nirgendworan festhalten. Es war undurchdringlich. Blau. Schwarz.

Ich legte den Kopf schief. Das war nicht das Einzige, das nicht stimmte. Etwas fehlte... diese Tiefe, sie verschlang etwas, sie verschlang... mich.

Ich hatte kein Spiegelbild.

Erschrocken wich ich zurück. Verstört tastete ich mein Gesicht ab, schaute auf meine Hände. Zaghaft drehte ich mich zu Conner. Sah er mich?

Quatsch, ich war doch nicht durchsichtig! Oder... unsichtbar.

Ich warf einen zweiten Blick in die dunkelblauen Tiefen. Nach nur kurzer Zeit schimmerte mir plötzlich ein Augenpaar entgegen. Aber nicht das meine.

Kugelrund und mit winzigen, schwarzen Pupillen blickten sie mir entgegen. Neugierig und überrascht. Genauso wie ich zurückstarrte.

Neben dem Augenpaar tauchte ein zweites auf. Ein drittes, ein viertes. Sie alle fixierten mich unablässig, bis ihre aufmerksamen Blicke auf etwas hinter mir gerichtet wurden. Eine Hand legte sich auf meine Schulter.

"Bitte", flüsterte Conner, "egal, was passiert, wenn ich in das Wasser gehen will, einfach so, dann halte mich auf. Lass mich auf keinen Fall ins Wasser, niemals. Ja?"

"Wieso? Was ist das da unten? Siehst du diese Augen auch?"

"Das sind Wassernymphen. Sie..." Er verzog das Gesicht, wich zurück, "versuchen, Männer mit ihrem Gesang in ihren Bann zu ziehen, in das Wasser. Ich will nicht wissen, wieviele schon da unten liegen."

Ich beugte mich noch einmal fasziniert über das Ufer hinweg. Jetzt konnte ich normal in das Wasser schauen, sah die verschiedenen Farben, den Sand, die Pflanzen, ganz klar. Die Augen waren verschwunden und ich sah nur noch den Schatten eines schlanken Armes davonhuschen.

Conner riss sich von dem Gewässer los, lief schnell viele Meter weiter.

Ich folgte ihm nach einiger Zeit. Es war so schön und gleichzeitig beängstigend, in dieses übernatürliche Wasser zu sehen.

Wassernymphen... aus der griechischen Mythologie? Hier war es lange kein Mythos mehr. Es war unglaublich, sich an einem Ort zu befinden, an dem alles existierte und alles möglich war, dass in unserer Welt unrealistisch war.

Legenden, Mythen, Sagen, Märchen. Alles war da.

Drachen. Wassernymphen.

"Hier kennt man die Loreley gar nicht, oder?", wandte ich mich an Conner. "Die Sage ist schließlich nordisch. Aus unserer Welt."

"Rate, wo alles Surreale unserer Welt wohl herkommt? Phantasie ist das Wissen, das unsere Welt übersteigt, und das so alt ist und so tief in uns verwurzelt, dass wir vergessen haben, dass es einmal Wirklichkeit war. An fremden Orten. Es bestätigt nur, dass vor vielen Ewigkeiten Menschen aus dieser Welt in unsere gereist sind."

Ich stockte kurz. Das konnte stimmen. Das machte Sinn. Das warf meine gesamte Weltanschauung zum zweiten Mal über den Haufen. Das erste Mal durch die neue Welt, das zweite Mal durch die Idee oder die Erkenntnis, dass alles real ist, dass es in meinem Kopf Wissen ist, dass Menschen bereits hier waren oder von hier kamen. Es war faszinierend.

"Wenn Phantasie Wissen sein sollte... würde es dann bedeuten, dass absolut alles, was ich mir vorstellen kann, wirklich existiert oder existiert hatte, ob hier oder an einem anderen Ort? In einer anderen Welt?"

Golden FairytaleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt