Überrollt

2.1K 69 15
                                    

Ich starre aus dem Fenster meines Wohnzimmers auf Seattle und versuche, diesen Tag, die Informationen und die Nutzlosigkeit aller meiner Bemühungen in der Vergangenheit zu begreifen.

Die offene Flasche Whiskey wandert ab und an von der linken in die rechte Hand, und öfters als gut ist nehme ich einen Schluck. Auf ein Glas verzichte ich. Im Hintergrund läuft Thomas Thallis, das Lied, welches ich einmal mit ihr im Spielzimmer zu ganz eigenem Leben erweckt habe.

Flynn würde es Selbstkasteiung nennen, ich selbst weiß nicht, was ich tun soll, und suche Halt am Boden der Flasche in meiner Hand. Antworten lauern dort keine, da bin ich mir sicher. Eine leere Flasche liegt schon vor mir und von Zeit zu Zeit drehe ich sie. Wahrheit oder Pflicht? Ich habe es nie gespielt, aber im Moment weiß ich nicht, was ich von den Begriffen Wahrheit und Pflicht halten soll.

Es ist wahr, dass Ana unschuldig ist, und es wäre meine Pflicht gewesen, sie vor allem zu schützen. Und ich habe noch nicht mal versucht, sie davor zu bewahren, sondern meine schwangere Frau nicht nur im Stich gelassen, sondern auch noch verraten und verkauft.

Und auch wenn ich falschen Informationen aufgesessen bin – ich hätte Ana glauben müssen. Lieben, Ehren und in guten sowie in schlechten Zeiten beistehen, ich habe bis auf das Lieben nichts auf die Reihe bekommen. Und offensichtlich ist Liebe nicht genug. Ich habe versagt und das auch noch bei dem Menschen, der für mich der wichtigste Mensch auf der Welt war. Ich habe die Frau enttäuscht, die immer an mich geglaubt hat.

Wie soll ich ihr je wieder in die Augen sehen? Mit ihr Reden oder auch nur in ihre Nähe kommen? Ich habe ihren Hass verdient und noch viel mehr. Ich habe ihr und meinem Kind geschadet, in meinem Versuch, Kontrolle auf sie auszuüben, und nie mit ihr in Ruhe über alles gesprochen. Wo war meine Menschenkenntnis? Mein Vertrauen in ihre Liebe?

Als ich erfuhr, dass Ana heute vor Gericht steht, hat Welch alle Kontakte genutzt, aber die Nachricht von Anastasias Freispruch, oder besser gesagt der Erklärung eines ungültigen Schuldeingeständnisses, hat mich nicht mehr überrascht. Es war ein Verifizieren von Tatsachen, denen ich mir schon bewusst war. Laut Welch waren die neuen Beweise schlüssig, und die Staatsanwaltschaft würde schon neu ermitteln.

Wozu? Für was noch einen Prozess? Nicht mal ein neuer Schuldiger würde mir meine Frau zurückbringen. Trotzdem will ich wissen, wer für diese Sache von damals verantwortlich ist. Dieser Mensch wird nie wieder einen glücklichen Tag erleben, was ich Ana angetan habe, war dagegen ein Witz. Wenn ich mit dem Schuldigen fertig bin, wird der sich die Hölle als Urlaubsziel wünschen.

Ein weiterer Schluck brennt sich meine Kehle hinab, und ich versuche, mir ihr Bild von der Gala in das Gedächtnis zu rufen. Sie hat gut ausgesehen, vielleicht ein wenig dünn. Sie sollte mehr essen. Achtet sie auf sich? Wie schafft sie es, das zu bewältigen?

Wie hat sie es nur hinbekommen, mir gegenüberzutreten? Oder Carrick?
Und wo ist mein Sohn? Wird sie mir je gestatten, ihn zu sehen?

Mein Blackberry brummt und rutscht durch die Vibration immer weiter zur Fensterfront. Seit Stunden versucht mich wohl, Gott und die Welt zu erreichen, aber ich bin nicht zu sprechen. Das Festnetztelefon im Büro liegt in Trümmern, ich habe Gail weggeschickt und kein Licht erhellt den nun im Dunklen liegenden Raum. Nur die Lichter der Stadt sorgen dafür, dass ich etwas sehe.

Meine Augen brennen, aber ich gestatte mir keine Schwäche, sitze hier und starre vor mich hin. Ich habe nicht verdient, um meine verlorene Liebe zu trauern. Trauern darf man nur, wenn man jemanden wirklich geliebt hat, und das glaubt mir doch nach meinem Verhalten keiner mehr.

Sie wird mir nicht vergeben, und ich werde es mir auch nie vergeben können. Aber ich kann vielleicht wieder gut machen, was ich angerichtet habe. Vielleicht gibt es etwas, was ich ihr geben kann. Aber dazu müsste ich mit ihr reden. Noch nie hatte ich Angst vor einem Menschen, aber Anastasia macht mir Angst – ich fürchte sie, mehr als ich je etwas anderes gefürchtet habe.

50 Shades of DesireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt