Lesenacht ❤ Kapitel 42

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Madisons Sicht

Ich schloss meine Augen.
Ich musste stark sein.
Noch einmal atmete ich tief durch, bevor ich sie wieder öffnete.
Jayden nahm meine Hand, während wir den Saal betraten.

Doch schon im nächsten Moment wurde mir der Boden unter meinen Füßen weggerissen und ich schlug mir die Hand auf den Mund.

"Haben sie Krankenwagen und Polizei verständigt?", presste Jayden heraus.

"Ja, ich war nicht im Saal, als es passierte."

Am Boden lagen Menschen.
Blutüberströmt.
Die Schreie begannen von Neuem. Dieses Mal kamen noch Tränen dazu. Viele warfen sich neben ihre Geliebten, weinten, beteten, schrien.
Diesen Anblick werde ich mein Leben lang nie mehr vergessen.

"MOM! DAD!", schrie ich und rannte los, rannte um die Tische, vorbei an der Tanzfläche zu unserem Tisch.

Und da war sie, meine Mutter, zusammen gekauert vor meinem Vater der am Boden lag.
"Dad.", flüsterte ich.
Meine Mutter drehte sich um.
"Maddy, oh mein Gott, Maddy, dir geht es gut."
Sie zog mich zu sich und drückte mir einen Kuss auf meine Haare.
"Madison.", wisperte plötzlich mein Vater.
Sie hatten ihn getroffen. Er hielt sich an die linke Schulter, wo sich das Hemd schon blutrot verfärbt hat.
"Halb so schlimm.", meinte er und versuchte sich aufzusetzen.

"Nein, Schatz, bleib liegen. Gleich kommt Hilfe."
Schmerzvoll verzerrte er sein Gesicht.

"Mom, wo sind Hope und Amanda?"

"Sie sind, kurz bevor sie kamen, auf die Toilette."

Ich stand auf und suchte den Raum nach Jayden ab.
Dort stand er. Aufgelöst auf der Tanzfläche. Er raufte sich aufgebracht die Haare.

Schnell rannte ich zu ihm.

"Ich finde sie nicht.", sagte er verzweifelt.

"Sie sind auf der Toilette."

Er riss die Augen auf, als er dort hinsprintete.

Ich flitzte zurück zu meinen Eltern.

Es fühlte sich so an, als würden alle meine Organe zusammen gequetscht werden.

Auf dem Boden kniend nahm ich die Hand meines Vater, der immer schwächer schien.

Ich merkte schon gar nicht mehr, wie mir die Tränen flossen und versuchte auch gar nicht, sie aufzuhalten.

"Bleib bei uns.", hauchte Mom und legte ihre Hand auf seine Wange.

Eine Weile blieben wir einfach so in dieser Position, jeder in seinen Gedanken vertieft, versuchten zu realisieren, was hier gerade passiert war.
Hinter mir hörte ich entsetzt jemanden nach Luft schnappen.
Amanda, die sich die Hand vor den Mund schlug und Jayden, der Hope auf dem Arm hatte und ihren Kopf wegdrehte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erklangen die langersehnten Sirenen.

Und plötzlich ging alles ganz schnell.
Die Sanitäter kamen reingestürmt, Verletzte wurden in die Krankenwagen verfrachtet, manche vorort behandelt. Mein Vater wurde auf eine Trage gelegt und dann weg getragen, wir hinterher.

Als wir so liefen, drehte sich mein Kopf wie ein Karussell. Alles war zu viel. Ständige Schläge in meinen Magen, jedes Mal, wenn ich jemand Verletzten sah, wenn ich meinen Vater sah, wenn ich meine aufgelöste Mutter sah. Doch als wir in Richtung Ausgang liefen und ich leblose Körper auf dem Boden sah, die mit einer weißen Decke zugedeckt wurden, war es endgültig mein Ende.
Ich wurde ohnmächtig.
Der Boden unter meinen Füßen verwandelte sich in ein tiefes, endlos schwarzes Loch, in das ich hinein fiel. Die Luft wurde mir durch ein unsichtbares, aber tonnenschweres Gewicht aus den Lungen gepresst und verhinderte mir das Atmen.
Es war ein schreckliches Gefühl, und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, dass sich so sterben anfühlt.

Ich steuerte dem Licht entgegen, raus aus dieser Dunkelheit. Ich flog auf einer Wolke immer höher und höher, bis ich in meinem Körper landete.
Zu erst blieb ich einfach reglos liegen, ließ mein Bewusstsein erstmal ankommen und Kraft sammeln.
Ich roch diesen unangenehmen Geruch nach Desinfektionsmittel und sobald ich meine Augen öffnete, sah ich in beißend helles Licht.
Geblendet kniff ich die Augen zusammen, bis alles schärfer wurde.

Warum war ich im Krankenhaus?
Was war passiert?

Ich drehte meinen Kopf etwas nach links. Dort war nur ein Schrank und ein Tischchen mit Gläsern und einer Flasche Wasser. Langsam richtete ich mich auf, was überraschenderweise relativ gut ging und trank etwas. Es erfrischte mich und ich fühlte mich auf der Stelle etwas besser. Dann sah ich nach rechts und erschrak.

Da lag ein Kopf auf meinem Bett.

Allein an den Haaren erkannte ich, dass es Jayden war.
Meine Fingerspitzen strichen über seine weichen Haare. Ich versuchte, sie in eine andere Richtung zu legen, doch sie fielen immer zurück. Ein kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen, während ich meine Hand einfach in seinen Haaren liegen ließ.

Brummend regte er sich und schaute plötzlich hoch, sodass meine Hand von seinem Kopf rutschte.

"Madison.", sagte er noch ein bisschen verschlafen und rieb sich die Augen.

Er trug immer noch seinen traumhaften Anzug, doch er hatte das Jacket ausgezogen.

"Wie geht's dir?"

"Besser."

"Deine Mutter ist bei deinem Vater."

Und da stürzte wieder alles auf mich ein.
Der Maskenball, der Tango, unser Kuss, die Schüsse, mein Vater, der angeschossen wurde. Wie ein Trailer in meinem Kopf.

Ich musste zu ihm.

Sofort schwang ich meine Beine über die Bettkante, doch bereute es schon im nächsten Moment, da mir schrecklich schwindlig wurde.
Jayden war direkt aufgestanden und drückte mich wieder sanft ins Bett.

"Du bleibst schön liegen. Deinem Vater geht es gut."

"Aber...-"

"Nichts aber. Er wurde operiert, alles ist gut gelaufen und er schläft jetzt. Und du musst dich auch ausruhen."

Ergeben seufzte ich und schloss meine Augen. Müdigkeit überrumpelte mich.

"Wo sind Hope und deine Mutter?", fragte mit geschlossenen Augen.

"Sie sind zurück ins Hotel gefahren."

Plötzlich erschienen wieder die Bilder von den Verletzten und den Toten und ich schlug die Augen wieder auf, atmete zittrig.
Sie werden mich verfolgen.
Jayden umschloss mit seinen großen Händen meine Hand.

"Wie viele?", fragte ich.

Mehr brauchte ich nicht zu sagen, denn er wusste genau, was ich meinte.
Niedergeschlagen ließ er den Kopf sinken, überlegte lange.

"9."

Geschockt schnappte ich nach Luft.

Neun Menschen.
Wurden aus ihrem Leben gerissen.
Neun Menschen.
Durften nicht mehr weiterleben.
Durften nicht mehr alt werden.
Durften nicht mehr ihre Träume verwirklichen.
Ihre Zeit war um.

"Wieso? Warum tun Menschen anderen Menschen so etwas an?", fragte ich und weinte.

Es hätte auch mich treffen können.

Hätte Jayden mich nicht auf den Balkon geführt, wären wir im Saal gewesen.

Hätten sie mich dort anvisiert?

Hätte sich Jayden nicht auf mich geworfen, wäre ich jetzt tot.

Jayden schwieg, während mir stumm die Tränen liefen.
Wir sahen uns an, ohne Worte.
Seine Augen waren leer. Kein Funkeln, kein Leuchten, wie ich es gewohnt war. Sie schienen matt.

Er beugte sich vor und legte seine Lippen auf meine. Sie lagen nur federleicht aufeinander, ich schloss die Augen. Ich hörte, wie er tief einatmete und sich dann entfernte.

Seine Lippen waren noch so anwesend auf meinen, breiteten genau die Wärme in mir aus, die ich jetzt gebraucht hatte.

"Versuch zu schlafen.", flüsterte er.

Und wie auf Kommando tat ich das auch.

@night98
extra für dich ❤

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