Warum man nach einer Prüfung nicht alles vergessen sollte (1/5)

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Die Sonne ging über Utanfeste auf. Sie erhellte die stählernen Ställe, sie glitzerte auf den riesigen Torbögen der Plattformen, sie tauchte das ganze Gebäude in ein kaltes, nüchternes Licht. Dass das Licht so nüchtern war, war aber nicht die Schuld der Sonne, sondern der ganzen eisernen Gebäude, die sie beleuchtete.

Die Plattformaufseher löschten die Laternen. Dann setzten sie sich wieder in ihre Hochsitze und begannen mit der nächsten Ansage.

Anna Hübsch setzte sich an ihren Schreibtisch und baute ihren Stifteturm weiter. Er war schon ganz schön hoch. Mal sehen, ob sie ihn bis zur Höhe der Lampe hochziehen konnte oder ob er vorher zusammenbrach.

Dann allerdings musste sie sich leicht genervt eingestehen, dass sie nicht für das Bauen von Stiftetürmen bezahlt wurde. Wenn ihr Horst mal nicht im Nacken saß, ließ sie die Arbeit echt schleifen. Na schön, was war denn im Posteingang? Ah, da war ja eine Brieftaube. Von Meister Mellrich. Zusammen mit einem ganzen Batzen Feuerfester Fluggastrechtformulare, die sie prüfen sollte. Diese Formulare waren eine tolle Idee: Die wütenden Passagiere ließen ihren Zorn nicht (oder zumindest etwas weniger) an den Mitarbeitern vor Ort, sondern stattdessen an einem Stück Papier aus. Und dann bekamen sie Geld zurück. Zumindest die paar, die sich wirklich die Mühe machten, das Ding komplett auszufüllen und dann auch noch abzugeben. Das waren leider echt viele.

Da Anna die entsprechenden Daten bereits vorlagen, musste sie jetzt wohl oder übel prüfen, ob die Drachen wirklich so spät waren, wie die Leute behaupteten. Das Traurige daran war, dass sie es höchstwahrscheinlich tatsächlich waren.

Seit zehn Jahren arbeitete Fräulein Anna Hüpsch für das Imperiale Drachennetz, zuerst in einer kleinen Verkaufsstelle für Flugkarten in der Nähe von Shlomin, später in einer wesentlich größeren Verkaufsstelle von Rechts-Utanfeste, dann einen Monat lang für einen Koordinator namens Mats Manden, der allerdings bei einem Gewitterflug durch einen Blitzschlag ums Leben kam. Sein Nachfolger war Horst Meier.

Anna mochte Horst. Eigentlich. Also, „mochte" heißt, sie hielt ihn für einen fähigen Koordinator und auch einen, soweit sie das beurteilen konnte, eigentlich ganz guten Menschen, mit dem produktive Zusammenarbeit möglich war. Aber: Sie hielt ihn auch für naiv, und das ärgerte sie manchmal.

Als zum Beispiel die Trolle entlassen wurden, weil die Strecke dieses einen Güterdrachen verlegt werden sollte... Anna hatte mit ihnen gesprochen. Es war offensichtlich, dass sie mit der Abfindung des Imperiums nicht lange würden überleben können – falls sie keine Arbeit fanden. Und wer sollte ihnen in der Gegend schon Arbeit geben, wenn nicht das Drachennetz? Das aber hatte sie gerade erst entlassen. Vermutlich lebten die Trolle längst wieder in den Hügeln in der Umgebung und überfielen Reisende, wie ihre barbarischen Vorfahren. Obwohl sie auch da nicht viel verdienen konnten, schließlich reisten ja heutzutage die meisten Leute per Drachen.

Als sie versuchte, Horst diese Ungerechtigkeit begreiflich zu machen, meinte er, das werde schon in Ordnung kommen. Schließlich hätten sie doch die Abfindung bekommen und überhaupt. Gut, vielleicht könnte sie etwas höher sein, aber es war doch schon mal gut, dass es überhaupt eine gab. Sein Blick wurde dann immer so ganz leicht glasig.

Oder das Gespräch, das sie kurz vor Horsts Abflug geführt hatten. Es erschien Anna ausgesprochen seltsam, dass gar keine Möglichkeit gab, das Drachennetz zu verklagen. Wenn sich der Drache verspätete, dann gab es natürlich die Feuerfesten Formulare, mit denen man mit nur ein ganz klein wenig Geduld und Glück sein Geld zurückbekam. Aber wenn der Pilot den Drachen nun in einen Sturm steuerte, der so stark war, dass sich ein Kind zu Tode erschreckte und für immer geschädigt blieb? Wenn das eigene Haus abgerissen wurde, um dort an einer eine verkehrstechnisch günstigen Stelle eine Drachenstation zu bauen? Die dann womöglich nach zwei Jahren wieder verlegt wurde? Was war dann? Anna hatte schon einige Geschichten gehört. Das Imperium entschädigte oft mit Geldsummen, aber nicht immer. Und immer machte das Imperium die Regeln, gab einem Formulare zum Ausfüllen, bestimmte, wer wann wofür welche Entschädigung erhielt, wenn überhaupt.

Anna wusste auch, das längst nicht alle Mitarbeiter des Imperiums so fähig waren wie Horst. Viele gehörten im Grunde längst gefeuert. Piloten, die ihre Passagiere in unnötige Gefahr brachten, Koordinatoren, die mit ihren Aufgaben vollkommen überfordert waren, Verkaufsaufseher, die in ihre eigene Tasche wirtschafteten... all das war ihr inzwischen geläufig.

Horst schien so etwas einfach nicht wahrzunehmen. Er hatte Mitleid mit den Betroffenen, wenn es zu einem Zwischenfall kam, daran bestand kein Zweifel, aber... es schien ihm einfach nicht der Gedanke zu kommen, das Imperium zu beschuldigen.

Hätte Anna eine realistische Chance auf einen auch nur ansatzweise so guten Arbeitsplatz gehabt, hätte sie den Job wahrscheinlich längst hingeschmissen, einfach aus Protest.

Gedankenverloren starrte sie auf das Fluggastrechtformular in ihrer Hand. Dann gab sie sich einen Ruck, wühlte in ihren Karteikarten über alle Drachen von vorgestern, inklusive Verspätungsanmerkungen, und überprüfte das Formular. Der Reisende war mit Rumpelregio 16 von Hintergremende nach Links-Briks geflogen, um dort auf den Graugleiter 12 nach Zentral-Hallo umzusteigen. Leider hatte der Drache Rumpelregio offenbar eine leichte Verspätung gehabt, weshalb er den Graugleiter 12 nicht mehr erwischt hatte. Der nächste Graugleiter 12 flog erst eine Stunde später ab. Insgesamt war er also 100 Minuten zu spät gewesen, weshalb der Reisende nun ein Viertel des Flugpreises zurückverlangte. Zu Recht, wie Anna ihm zugestehen musste. Sie vermerkte eine Bestätigung der Verspätung, stempelte das Formular ab und steckte die entsprechende Geldsumme in einen Umschlag, um sie dem Mann zuzuschicken.

In diesem Augenblick erklang ein lautes Rumsen. Anna zuckte hoch. Wenn das ein Drache war, dann war die Landung erstens ziemlich missglückt und zweitens am falschen Ort – so dicht am Siedlungsgebiet waren Landungen untersagt.

Als Anna aus dem Fenster sah, erkannte sie, dass der Drache doch noch ein gutes Stück weg vom Haus gelandet war. Der Aufprall war nur sehr laut gewesen, also wirklich eine sehr unsanfte Landung.

Wie sah der Drache überhaupt aus? Sehr mitgenommen, das auf jeden Fall, so erschöpft, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte, schmutzig – und was hing da an seinen Stacheln am Schwanz? War das Fleisch? Verkohltes Fleisch?

Horst diskutierte mit dem Stallpfleger Werner und drückte ihm die Zügel in die Hand. Er machte einen ganz ähnlichen Eindruck wie der Drache. Und auf dem linken Rücksitz saß noch jemand – irgendein zitternder, uralter Mann. Anna öffnete das Fenster.

„Morgen, gleich morgen erkläre ich das Meister Mellrich und allen anderen, okay? Das war ein Terroranschlag, und jetzt kann ich echt nicht mehr..." Er gähnte.

Kopfschüttelnd sah Werner zu, wie Horst in Richtung Haus torkelte. Der Greis rutschte aus dem Sattel. Anscheinend war er gar nicht richtig angeschnallt gewesen.

Als Horst die Tür öffnete, konnte er nur in sein Schlafzimmer torkeln und dabei auf eine andere Tür deuten.

„Da ist das Gästezimmer. Das ist meine Sekretärin, Fräulein Hüpsch. Fräulein Hüpsch, das ist Herr Schneider, er... nein, das erkläre ich jetzt definitiv nicht."

„Sie können mich auch gerne Verexus nennen."

Horst Meier und die Stange des SchreckensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt