Anna war eine passable Sekretärin, aber das kam nicht von ungefähr. An der ruhmreichen, jahrhundertealten Akademie hatte sie auf hohem Niveau lesen und schreiben gelernt. Das war ziemlich anspruchsvoll gewesen, aber irgendwie hatte sie sich da halt durchgequält. Das Imperium brauchte immer Schriftgelehrte, denn nur durch ständigen Briefaustausch ließ sich ein so großes Reich überhaupt verwalten. Da kam die Akademie dem Gouverneur von Briks gerade Recht. Bald wurden dort die meisten Schreiber des Imperiums ausgebildet.
Das Imperiale Drachennetz den Schreibern, die die Prüfung mit einer guten Note bestanden, Stellen als Sekretäre mit Aufstiegsmöglichkeiten an. Schon während des Studiums konnte sie aus Aushilfsschreiberin ein bisschen was dazuverdienen.
Dann standen eines Tages drohend die Abschlussprüfungen vor der Tür. Anna bereitete sich gewissenhaft vor, so gut sie es eben konnte. Sie musste einen Text lesen und Fragen dazu beantworten, einen Text hören und Fragen dazu beantworten, einen Text hören und mitschreiben, und selber einen Text schreiben. Das ganze einmal in Hochbriks, ihrer Muttersprache, und in Myoshinisch, der Sprache von Myoshiniklishaljak, der offiziellen Sprache des Imperiums. Was ihr wirklich schwerfiel, war das Hören. Sie hatte das Gefühl, die Professoren an der Akademie suchten absichtlich nuschelnde Vorleser mit den absonderlichsten Dialekten aus. In ihrer Prüfung auf Myoshinisch erzählte ein Geschichtenerzähler aus Distreal 15 eine Sage über einen Grafen, der sich eine Burg direkt an der Kante bauen wollte. Die Burg rauschte letztendlich mitsamt dem Grafen und dem Architekten, der gerade vom Grafen ausgeschimpft wurde, die Stufe herab. So entstand angeblich das Fünfzehner-Keil, eine Stelle, wo bis heute ein großes Stück der Kante keilförmig ins Land hineinragt, weil offenbar ein Teil des Gesteins abgestürzt ist.
Die Geschichte strotzte nur so von Wortspielen, der Erzähler baute gerne kleine satirische Spitzen ein. Als er fertig war, fehlten Anna immer noch die Antworten auf mehrere Fragen, die auf ihrem Zettel standen. Sie zermarterte sich das Hirn. Einige fielen ihr noch ein, bei dreien kreuzte sie schließlich irgendwas an.
Dann hatte sie nicht mehr viel Zeit für die letzte Aufgabe. Die war eigentlich ganz einfach, eher eine kleine Spielerei zum Schluss: Sie sollte eine Geheimschrift entwerfen und den vorgegebenen nieder-myoshinishen Satz darin niederschreiben. Auf dem Zettel waren bereits sämtliche Buchstaben des Alphabets und die wichtigsten Sonderzeichen vorgegeben. Neben jedem Buchstaben befand sich ein Quadrat, in das sie das geheime Zeichen eintragen sollte. Noch fünf Minuten... die Zeit wurde knapp. Rasch machte sie einen senkrechten Strich ins erste Kästchen, einen waagerechten ins zweite, einen diagonalen ins dritte. Als ihr die Striche ausgingen, malte sie ein Kästchen aus, dann erfand sie seltsame Schnörkel, mit denen sie die Quadrate füllte. Dann fiel ihr ein, dass die Kästchen wahrscheinlich gar nicht als Teil der geheimen Buchstaben gedacht waren, sondern nur zur Abgrenzung der Zeichen. Noch zwei Minuten... egal, den Satz übersetzen!
Zwanzig Geheimschriften entstanden allein in dieser Prüfung, überlegte Anna hinterher. Wie seltsam. Alle waren ja quasi eigene Schriftsprachen, aber keine von ihnen würde je wieder benutzt werden. Sobald diese Prüfung fertig und kontrolliert war, würde jedes dieser Alphabete in Vergessenheit geraten.
„Ist doch komisch. Genau das hab ich damals gedacht. Ich hab mir da sogar eine ganze Weile den Kopf darüber zerbrochen."
„Und wann war das?", fragte Martin.
„Als ich den Abschluss gemacht hab, das war, Moment... vor elf Jahren."
„Gut. Also, Pedanten würden jetzt vielleicht sagen, dass das gar nicht geht, weil ich das Buch seit tausenden von Jahren bewache."
„Und da sind seit tausenden von Jahren diese Kästchen drin?", fragte Horst.
„Denkst du, jemand hat die zwischendurch ausgetauscht, ohne dass ich das mitgekriegt hab?" Martin klang verärgert.
„Immerhin hast du das Buch seit hundert Jahren nicht richtig bewacht."
„Ich war im Buch. Das ist doch perfekt, um aufzupassen, dass es immer noch dasselbe Buch ist."
„Äh, Sie waren im Buch?", fragte Anna.
„Jep. Weil ich schwerverletzt war."
„Ach so, na dann." Anna beschloss, das Gespräch in eine vernünftigere Richtung zu lenken. „Also sind Sie ganz sicher, dass sie diese Zeichen schon vor zigtausend Jahren gesehen haben?", fragte Anna Hüpsch. War das jetzt vernünftiger? Vielleicht.
„Äh, zigtausende ist vielleicht übertrieben. Aber vor hundert Jahren, bevor ich im Buch war, da hab ich mit den Mädchen reingeguckt und da stand war eindeutig dasselbe wie hier." Er blätterte durch die Seiten des grünen Buches. Horst trat nervös auf der Stelle. Er wollte nicht unbedingt, dass Martin die Stelle entdeckte, an der er versehentlich eine Seite herausgerissen hatte. Unwillkürlich tastete Horst in der Hosentasche nach dem zusammengeknüllten Blatt.
„Wenn Sie sich so sicher sind, dass Sie diese Schrift erfunden haben, dann übersetzen Sie uns das doch mal. Wär ja mal interessant zu wissen, was drinsteht."
„Weißt du jetzt nicht schon fast alles, seit du in dem Buch warst?", fragte Horst.
„Erstens hat mir das Buch nicht alles gesagt, und zweitens will ich die Spannung nicht verderben. Nur zu!" Er reichte Anna das aufgeschlagene Buch. Zögernd blickte sie auf die Schrift.
„Hm. Also, das ist jetzt elf Jahre her, ich weiß natürlich nicht mehr so genau, was jetzt was ist... ich glaube, das da war ein E... und das war ein A... also heißt das da A, das Zeichen kenn ich nicht, E, A, das auch nicht, ..."
„Areal?", schlug Horst vor.
„Nee, da kommen noch mehr, die ich nicht kenne. Hm, das Ausgemalte, das war K oder L, glaub ich ."
„Guck mal nach kurzen Wörtern, die kriegst du vielleicht raus.", empfahl Horst. Inzwischen war er echt neugierig, was sich alles zwischen den grünen Buchdeckeln verbarg. An den Anderthalb-Stunden-Takt nach Hallo an Wertagen dachte er längst nicht mehr.
„Ja, aber da sind ja keine richtigen Leerstellen. Die Lücken zwischen den Zeichen sind immer ganz unterschiedlich groß. Hm, wenn das eine Leerstelle ist, dann heißt das vielleicht Akea."
„Akea?"
„Das heißt Möbelstück auf Niederbriks."
„Also ist das auf Niederbriks geschrieben?"
„Weiß ich nicht. Hm. Das hier unten könnte auch Myoshinisch sein. Obwohl... tja, schade, dass ich den Prüfungszettel nicht mehr hab. Dann könnten wir jetzt alles lesen."
„Das war wohl nix, Fräulein."
„Na, vielleicht krieg ich's ja noch raus."
Es läutete an der Tür.
„Bist du sicher, dass dir nicht noch mehr Buchstaben einfallen? Vielleicht, wenn wir noch zwei..."
„Horst, es hat geläutet."
„Oh, Entschuldigung. Bin gleich wieder da!"
Horst hoffte inständig, dass sie nicht den großen Durchbruch hatten, während er abwesend war. Er rannte zur Eingangstür und riss sie auf.
Niemand da.
Ein Klingelstreich. Na gut, schnell zurück.
„Herr Meier?"
„Ja?"
Die Stimme kam von unten. Horst senkte seinen Blick in die entsprechende Richtung und entdeckte etwas. Eine orange Uniform und ein Helm, zwischen denen ein eisengrauer Bart hervorquoll. So ungefähr sieht das aus, wenn ein Bergzwerg der imperialen Armee beitritt.
„Ich bin General Klodom."
„Freut mich. Wie kann ich Ihnen helfen?" Zögernd ging Horst ein bisschen in die Knie, um dem Zwerg die Hand hinzustrecken. Aber dem General war wohl nicht nach Händeschütteln.
„Sie sind festgenommen wegen Beteiligung an einer verbotenen terroristischen Organisation, dem Mord an einem Herrn Promolus und Beihilfe zum Mord an Pluto Mishash und einem Drachenpiloten, der als Käpt'n Grünwolf bekannt ist, alle drei Personen in den Diensten des Imperiums. Ihr Haus ist umstellt. Alles, was Sie sagen, kann gegen Sie verwendet werden."
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Horst Meier und die Stange des Schreckens
FantasyHorst lebt ein friedliches Leben in den Diensten des Stufenimperiums und koordiniert Flugpläne für Drachen. Aber weil es ziemlich langweilig wäre, nur über so ein friedliches Leben zu schreiben, gelangt Horst eines Tages zufällig an ein Buch, das sä...