Die Sonne ging über Briks auf. Sie erleuchtete die hölzernen Bruchbuden, die grob gemauerten Reihenhäuser und die weißen Tempel und Paläste, sie lockte das Leben aus den Häusern, sodass Menschen herauskamen, Marktstände aufbauten, durch die Straßen liefen oder in Kutschen Platz nahmen. Immer öfter flogen Drachen in die Drachenstation hinein und wieder hinaus. In so manchem Straßengraben erhob sich ein verkaterter Student, um sich dann nach Hause oder (wenn er ehrgeiziger war) zur nächsten Stunde in die Akademie zu begeben. Straßenkehrer holten ihre Besen heraus und fegten. Dabei sangen sie fröhlich und falsch, bis sie irgendwer bat, die Klappe zu halten. Die Glocke des Traurigen Tempels läutete zum Vormittagsgebet.
Im Gasthaus Zum blutigen Teebeutel erwachte Horst von all dem Gebimmel. Er war noch ziemlich verschlafen, doch er öffnete die Augen. Vor ihm stand ein Gerippe. Eines der mehr oder weniger geschmackvollen Details der Gasthausbesitzer. Wehmütig betrachtete er die Knochen des Brustkorbs. Nur eine Nacht in diesem, naja, immerhin recht billigem Gasthaus war ihm vergönnt gewesen. Igro wäre es ganz offensichtlich am liebsten gewesen, er würde sich gar nicht mehr auf offener Straße zeigen. Doch Horst wollte nicht all seine Sachen hier zurücklassen und sich schon wieder ins Ungewisse stürzen. Er hatte den Zauberer schließlich überzeugen können, dass es auch recht verdächtig wirken würde, wenn er das Gasthaus nach nicht mal einer Nacht so überstürzt verlassen würde. Daraufhin hatten sie sich darauf geeinigt, dass er nur eine Nacht dort verbringen und alle seine Sachen holen würde.
Und diese Nacht war definitiv zu kurz gewesen.
Mittags würde sie sich wieder mit Igro zu einem konspirativen Gespräch treffen. Horst hatte kaum eine Wahl, denn ohne Igros Hilfe würde ihn das Imperium früher oder später doch schnappen und für den Mord an diesem Dämon hinrichten. Trotzdem fühlte sich Horst in letzter Zeit nur noch herumkommandiert und herumgeschubst. So langsam würde echt mal wieder was selber entscheiden. Den Sammler suchen gehen oder die Abflugzeit eines Drachen verlegen zum Beispiel.
Horst und Martin bezahlten die Rechnung und marschierten nach Treppab-Briks, in Richtung der alten Station. Dabei handelte es sich eigentlich nur noch um eine Ruine. Solche Gebäude gab es häufig im Imperium, und aus irgendeinem Grund sahen sie immer alle haargenau gleich aus: Einfache Mauern aus Feld- oder Ziegelsteinen, Türen und Fenster mit Brettern verrammelt, die Plattformen nicht gepflastert, sondern mit Sand oder Kies bestreut. Unzählige Dörfer hatten so ein hässliches Gebäude. Bei manchen war die Strecke des Drachen längst woandershin verlegt worden, bei anderen fehlte nur der Geld zum Unterhalt des Gebäudes, und regionale Drachen hielten nach wie vor an den drei Plattformen davor (auch wenn selten mal jemand ausstieg), und bei manchen, wie in Briks, hatte man längst modernere Stationen in anderen Stadtteilen.
Aus der Ruine ragte der alte Drachenturm auf, in dem Igro Igrorowitsch Wastjef auf sie wartete.
Martin ächzte. Hohe Gräser und stachelige Schlingpflanzen hatten die Ruine längst umzingelt und in ihren Würgegriff genommen. Es war anstrengend, sich da durchzukämpfen.
„Da ist doch alles zu.", meinte Martin. Er sah nichts als verrammelte Fenster, und sein Buch wollte ihm auch gerade nicht helfen.
„Er hat gesagt, der Turm ist offen.", entgegnete Horst stur.
Und das war er tatsächlich. Der niedrige Durchgang wurde von keinem einzigen Brett versperrt. Hatte die Stadt keine Angst, dass sich hier irgendwelche Kriminellen einnisteten? Nein, hatte sie nicht, und zwar zu Recht, gestand sich Horst ein, nachdem er den Turm leicht geduckt betreten hatte. Unmittelbar nach dem Durchgang folgte die erste Treppenstufe.
Und auf diese Treppe wagten sich bestimmt nicht mal Schwerverbrecher.
Anna hatte beschlossen, nicht ins Gasthaus zu gehen. Dass eine der drei Personen, die sich im Gasthaus einquartiert hatte, nicht kam, würde nicht allzu sehr auffallen. Sie schlief ein paar unruhige Stunden auf Igros Sofa in seinem Geheimzimmer.
Am nächsten Morgen weckte der Zauberer sie.
„Ich habe nachgesehen.", sagte er.
„Hä?", gähnte Anna verschlafen.
„Es ist weg."
„Was ist weg?"
„Ihre Prüfungen."
Und schon war sie hellwach.
„Wieso denn?"
Nachdenklich schaute Igro auf einen aufgeschlagenen, spinnwebenverhangenen Ordner in seiner Hand.
„Wer weiß noch, dass sie Ihre Prüfung ansehen wollen?"
„Naja, da war ja... dieser Dozent im Flur. Dieser Dunkelelb."
„Ah, der. Doktor Donald Dark. Hat er sie erkannt?" (Besagter Doktor Donald entstammte dem ruhmreichen Adel-Elbengeschlecht der Darks. Berühmte Abkömmlinge dieser Familie sind beispielsweise Moby Dark der Dicke, Dagobert Dark der Reiche oder Lord Dark-Maul der Vorlaute.)
„Sah nicht so aus. Vielleicht hinterher, als er ein Plakat gesehen hat."
„Dann hat er die Papiere am Nachmittag mitgenommen, bevor wir angekommen sind. Mist."
„Wieso denn?"
„Damit er etwas gegen Sie in der Hand hat. Gut. Ich gehe zur Akademie und sehe nach, wo er ist und ob ich die Dinger wiederkriege und, hm, wo er ist. Aber vorher können Sie mir mal sagen, wozu Sie ausgerechnet jetzt, wo das ganze Imperium Sie sucht, Ihre alten Schulprüfungen einsehen wollen."
„Oh, nee, kann ich leider nicht. Da muss ich mich erst mit den anderen besprechen, ob sie einverstanden sind."
„Na gut, dann fragen Sie nachher am Turm. Ich bin sehr gespannt. Versprochen?"
„Versprochen."
Der Zauberer spazierte fröhlich pfeifend aus dem Zimmer. Anna rieb sich die Augen. Wieso war der so früh schon so gut gelaunt? Wahrscheinlich Magie.
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Horst Meier und die Stange des Schreckens
خيال (فانتازيا)Horst lebt ein friedliches Leben in den Diensten des Stufenimperiums und koordiniert Flugpläne für Drachen. Aber weil es ziemlich langweilig wäre, nur über so ein friedliches Leben zu schreiben, gelangt Horst eines Tages zufällig an ein Buch, das sä...