Wohin man sich wenden muss, damit die Handlung einen ganz neuen Impuls bekommt (6/6)
Es gibt Leute, die sagen, alle Wege würden nach Briks führen. Man muss diese Aussage aber auch kritisch betrachten, denn viele dieser Leute stammen selbst aus Briks und arbeiten dort in der Tourismusbranche. Deswegen ist ihre Meinung dazu vielleicht nicht ganz so objektiv.
In der Fremdenverkehrsbehörde von Myoshiniklishaljak heißt es dagegen, dass alle Wege nach Myoshiniklishaljak führen. Inzwischen haben sich beide Städte darauf geeinigt, dass die Welt im Großen und Ganzen aus Straßen besteht, auf denen man in der einen Richtung nach Myoshiniklishaljak und in der anderen nach Briks gelangt.
Aber selbst wenn ein Weg auf jeden Fall nach Briks führt, kann er sich doch ziemlich in die Länge ziehen. Zum Beispiel auf einem Drachen, der bereits 60 Minuten Verspätung hat und an der einen oder anderen Stelle noch weitere fünf Minuten aufsammelt, weil der Luftraum wegen schlechtem Wetter gesperrt wurde oder der Pilot auf einen Anschlussdrachen warten muss.
Die drei Reisenden störten sich nicht so sehr daran, denn sie mussten in Briks nicht umsteigen.
Also verschliefen sie den Großteil des Fluges. So entging ihnen leider der faszinierende Ausblick auf das Untote Meer und seine tückischen Tangwälder, der nicht ganz so faszinierende Ausblick auf die Hügel von Hallo und der mit Sicherheit nicht faszinierende Ausblick auf noch viel mehr langweiligen Wald.
Horst und Martin schlummerten nach der Wanderung und all dem Stress tief und fest in ihren Sitzen, Anna wachte gelegentlich auf und dachte nach. Seit elf Jahren war sie nicht mehr in Briks gewesen. Seit elf Jahren hatte sie ihre Eltern nicht mehr gesehen, sondern nur noch Briefe bekommen. Wann hatte sie eigentlich den letzten Brief an die beiden geschrieben? Das war wahrscheinlich... oh nein, das war zum Geburtstag ihrer Mutter. Das war ja schon fast ein halbes Jahr her. Mensch, wie schnell die Zeit verging... obwohl, die Zeit war in dem halben Jahr nicht unbedingt schneller vergangen als sonst. Aber sie konnte den Spruch ja trotzdem bringen, falls sie darauf angesprochen wurde.
Anna stammte aus einem winzigen Dorf in den Buttersümpfen. Die Buttersümpfe liegen hinter den Hügeln von Briks und sind wohl die touristisch am wenigsten erschlossene Gegend der ganzen Welt. Das liegt daran, dass sie stinken. Nach Butter. Nach alter, ranziger Butter, die in der fettigen Hitze vor sich hin schmilzt. Lecker.
Nur dort messen die Klimaforscher nicht etwa die Luftfeuchtigkeit, sondern den Luftfettgehalt.
Daher hatte Anna in ihrem Brief einen anderen Wohnort angegeben, als sie sich an der Hochgelehrten Akademie von Briks bewarb. Sie hoffte, dies würde vielleicht ihre Chancen erhöhen, denn vermutlich wollte niemand eine stinkende Schreiberin. Mit dieser Vermutung lag sie goldrichtig, und so wurde sie aufgenommen. Ihre kleine Lüge flog nie auf.
Als sie die Stadt betrat, war sie überwältigt. Briks war eine Großstadt mit hunderttausenden Menschen und einer mehr schlecht als recht funktionierenden Kanalisation. Außerdem regnete es oft, und im Frühling trat der Fluss über die Ufer und brachte noch mehr schlammiges Wasser aus den Hügeln, in das die Bauern in der Umgebung ihren gesamten Abfall entsorgten.
Für jemanden aus den Buttersümpfen aber roch die Stadt wie ein blühender Garten voller Rosen und Lavendel. Dem stimmten auch ihre Eltern zu, als sie ihr einige Jahre später hinterherzogen. Ansonsten stimmten sie ihr nicht besonders oft zu. Ganz besonders nicht, wenn Anna meinte, ihre Noten seien doch gar nicht so schlecht und würden schon wieder besser werden.
Auch gegenseitig stimmten sich die Eltern nicht mehr so oft zu. Ihre Mutter genoss das Leben in der Großstadt, aber ihr Vater schnupperte hin und wieder sehnsuchtsvoll an einem älteren Stück Butter. Dazu hatte er sich sogar extra ein Stück Butter aufgehoben, das in einer Ecke des Schrankes immer älter wurde. Als Annas Mutter es dort entdeckte, schmiss sie es weg. Daraufhin wurde ihr Vater jähzornig und beschuldigte seine Frau, das Andenken an ihre Heimat beschmutzt zu haben. Dass sich die Eltern in irgendeiner Angelegenheit zustimmen würden, konnte man nun endgültig vergessen. Stattdessen zog die Mutter aus. Der Vater wollte erst in die Sümpfe zurückziehen, lernte dann allerdings eine etwas jüngere Brikserin kennen und, siehe da, plötzlich war das Großstadtleben doch nicht so übel. Was Annas Mutter dazu sagte, sollte in einem serösen literarischen Werk nicht zitiert werden. Sagen wir es mal so: Sie fand es nicht gut.
Anna und ihre Mutter hatten beschlossen, den Vater stillschweigend zu verachten. Seitdem hatte Anna keinen Kontakt zu ihm. Würde sie ihn besuchen? Wohl eher nicht. Aber ihre Mutter wollte sie auf jeden Fall sehen.
Der Drache holte sogar noch einen Teil der Verspätung auf und erreichte nur 45 Minuten zu spät die Drachenstation Oberbriks. Als sie in den Landeanflug gingen, schreckte Horst hoch. Unter sich sah er eine große Fläche, vollgestopft mit Häusern, Menschen und noch mehr Häusern und noch mehr Menschen.
„Sind wir da?"
„Ja."
„Das ist also Briks."
„Genau." Bis jetzt hatte Anna nicht den Eindruck, dass sie aus dieser Konversation irgendwelche neuen Erkenntnisse gewinnen würde.
„Ziemlich groß.", murmelte Horst.
Nein, bestimmt keine.
„Kein Wunder, dass es so stinkt."
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Horst Meier und die Stange des Schreckens
FantasiaHorst lebt ein friedliches Leben in den Diensten des Stufenimperiums und koordiniert Flugpläne für Drachen. Aber weil es ziemlich langweilig wäre, nur über so ein friedliches Leben zu schreiben, gelangt Horst eines Tages zufällig an ein Buch, das sä...