Als sich Horst nach dem Mittagessen ausgeschlafen an seinen Schreibtisch setzte, wurde er sofort ruhiger. Da lagen sein Posteingang, sein Postausgang und all die anderen schönen Papiere, mit denen er sich so gut auskannte, und hatten auf ihn gewartet, während er all die seltsamen, gefährlichen und ausgesprochen lästigen Dinge durchgemacht hatte. An die Arbeit!
Es schien während seiner Abwesenheit kaum zu außergewöhnlichen Ereignissen gekommen zu sein. Natürlich, einige Verspätungen wegen Verzögerungen im Betriebsablauf, aber in den meisten Fällen weniger als eine Stunde.
Nachdem sich Horst eine Weile der eingehenden Post gewidmet hatte, beschloss er, für den Rest des Vormittags eine längerfristige Aufgabe in Angriff zu nehmen. Im zwei Monaten sollten zehn ältere, schwache Drachen vom Typ Altfalterflatter vom Netz genommen werden. Zehn junge Drachen sollten sie ersetzen. Leider waren sechs von ihnen noch nicht genügend ausgewachsen. Sie steckten immer noch mitten in der Pubertät und die Pfleger hatten prognostiziert, dass sie auch in zwei Monaten noch nicht flugtauglich sein würden. Da musste sich jemand ganz fürchterlich verrechnet haben. Zuerst sollten die alten Drachen noch länger benutzt werden, doch die Piloten hatten sich geweigert, noch viel länger mit den alten zu fliegen. Horst fiel nun die Aufgabe zu, die Flugzeiten auf der Strecke von Utanfeste nach Hallo neu einzutakten, damit zumindest die zwei ältesten Drachen nicht mehr gebraucht wurden. Die ausgefallenen Flüge sollten möglichst nicht auffallen, aber eben trotzdem ausfallen.
Horst hatte sich gerade überlegt, aus dem Ein-Stunden-Takt an Werktagen einen Anderthalb-Stunden-Takt zu machen, als Fräulein Hüpsch erschien.
„Stör ich?"
„Ein bisschen.", musste Horst zugeben. „Was gibt es?"
„Ich habe das Gepäck ausgeräumt. Wo soll ich die Sachen hinstellen?"
„Welche Sachen? Der Sattel und und der Anzug kommen in den Schuppen, wie immer."
„Und das Buch?"
„Welches Buch?"
„Das Buch."Horst blickte auf und bemerkte, dass Fräulein Hüpsch ein Buch in der Hand hielt. Das Buch.
„Ah, das Buch."
„Ja, das Buch."
„Das Buch, das kommt, äh, das gehört Martin."
„Ist das der, äh, ältere Herr von gestern?"
„Ja, genau."
„Gut. Und dieser Skistock? Kommt der in den Schuppen?"
„Äh, nein. Den bring ich dann schon weg."
Horst nahm der Sekretärin besagten Skistock ab und stellte ihn neben den Schreibtisch. Dabei versuchte er zu verbergen, wie unglaublich nervös ihn dieses Ding machte und dass er es im staubigsten Schrank verstecken würde, sobald Fräulein Hüpsch das Zimmer verlassen hatte.
Die Sekretärin interessierte sich allerdings mehr für das Buch.
„Was steht denn da drin?"
„Keine Ahnung.", antwortete Horst.
„Kann ich mal reinschauen?"
„Nein, gib es mal lieber Martin."
„Och, lass sie doch reingucken!", rief jemand aus dem Flur. Dann betrat der Wächter des Buches das Zimmer. „Guten Morgen! Danke für die Übernachtung, so ein bequemes Bett hab ich wirklich gebraucht."
„Dann hat Sie der Fluglärm nicht gestört?", erkundigte sich Fräulein Hüpsch höflich.
„Ach was. Welcher Fluglärm? Die Station ist doch 1,023 Kilometer entfernt."
„Dann waren Sie hier schon mal?"
„Nein."
Offenbar war die Sekretärin etwas verwirrt, woher der alte Mann dann die exakten Entfernungen innerhalb von Utanfeste kannte.
„Mach dir nichts draus, so ist das immer, wenn man mit ihm redet.", merkte Horst an.
„Verstehe.", meinte Anna Hüpsch, die ganz offensichtlich nichts verstand.
„Martin, in der Küche gibt es was zu essen.", erklärte Horst. „Die Tür schräg gegenüber vom Gästezimmer."
„Gut, alles klar. Ich lass euch dann mal alleine.", meinte er und zwinkerte Horst zu.
Als er schon fast draußen war, ging Horst die Bedeutung des Zwinkerns auf. Daraufhin wollte er etwas klarstellen.
„Äh, nein, nein. Das ist meine Sekretärin und nicht meine... Ehefrau oder so was." So, wie er das Wort Ehefrau aussprach, klang es wie der Gipfel alles Obszönitäten, von denen Horst je gehört hatte. (War es auch. Traurig, aber wahr.)
„Echt nicht? Ich dachte, da wäre gerade so romantische Musik, aber egal."
„Also darf ich mir Ihr Buch anschauen?", fragte Fräulein Hüpsch.
„Ja, aber seien Sie bitte vorsichtig! Es enthält sämtliches Wissen des Universums.", rief er ihr im Hinausgehen zu.
„Jetzt wirklich?", fragte sie Horst.
„Keine Ahnung. Die Schrift kann ja eh niemand lesen.", seufzte Horst und machte sich wieder an seine Arbeit.
Achselzuckend schlug die Sekretärin das grüne Buch auf.
Und ließ es überrascht fallen.
DU LIEST GERADE
Horst Meier und die Stange des Schreckens
FantasyHorst lebt ein friedliches Leben in den Diensten des Stufenimperiums und koordiniert Flugpläne für Drachen. Aber weil es ziemlich langweilig wäre, nur über so ein friedliches Leben zu schreiben, gelangt Horst eines Tages zufällig an ein Buch, das sä...