Wie man (nicht) handeln sollte, wenn man sich ein altes Dokument ansehen will (2/6)
Inzwischen fand Horst Briks gar nicht so schlecht. Zuerst war er von der Stadt ziemlich verwirrt gewesen. Die Drachenstation hatte 20 Plattformen und war mindestens so groß wie die in Utanfeste.
Es gab Geschäfte, in denen man an eine warme Mahlzeit, eine kalte Mahlzeit, Totenschädel, Bücher, Bier, Stadtführungen, Goldfische, Kleider, Landkarten, Antiquitäten, Feder und Papier, Handkarren, bunte Steine und den Original Brikser Bluttee bekommen konnte, außerdem jede Menge Toiletten (auf einige davon konnte man sogar gehen, ohne vorher sein Testament zu machen), Restaurants, Bettler, Salons, Bars und Huren. Verwirrt hatte Horst überlegt, ob die Brikser wohl ihre ganze Stadt überdacht und in Stockwerke eingeteilt hatten. Doch dann hatten sie eine große Eingangshalle erreicht, und Horst musste begreifen, dass sie sich noch immer in der Drachenstation befanden.
Er hatte sich immer für einigermaßen gebildet und weltgewandt gehalten, schließlich war er ein wichtiger Angestellter des Imperialen Drachennetzes. Gewesen. Doch seine Jugend hatte er fast ausschließlich im Ausbildungslager verbracht, in seiner kurzen Laufbahn als Pilot war er nicht über die Regionaldrachen nach Distreal 9,75 hinausgekommen und danach war er nur noch in der Umgebung von Shlomin und Utanfeste tätig gewesen. Kein Wunder, dass nun Anna die Führung übernommen hatte. Immerhin hatte sie hier mal gelebt.
Am Ausgang klebten große Fahndungsplakate mit Bildern von Horst, Anna und einer „älteren, männlichen, ärmlich gekleideten Person, möglicherweise in Begleitung der Terroristen Meier und Hüpsch". Martin war nicht zu erkennen, da die Zeichner nur Beschreibungen verwirrter oder betrunkener Militärs zur Verfügung hatten. Horst und Anna aber waren gut gut getroffen. Das war für Horst wie ein Schlag ins Gesicht oder ein Schwall Eiswasser über den Kopf oder eine Falltür, die sich plötzlich unter seinen Füßen auftat oder alles gleichzeitig. Erschrocken zuckte er zurück und stolperte geradewegs in den nächsten Postkartenständer.
Auch Anna schien nach einer Weile etwas verwirrt. Gefühlt jedes zweite Gebäude kommentierte sie mit: „Also, das stand hier aber damals noch nicht."
Nach einer Weile konnte er sich wieder auf die Stadt konzentrieren, und er erfand in Gedanken ein Prinzip, mit dem er sich hier zurechtzufinden versuchte. Den Platz vor der Drachenstation kannte er ja. Der war groß, und den würde er auf Anhieb wiedererkennen. So. Und von diesem Platz aus gingen Straßen ab. Vor allem nach vorne. Hinter der Station schien irgendwie nicht besonders viel zu sein. Wahrscheinlich war da ein Fluss oder so.
Also befanden sich alle wichtigen Plätze der Stadt quasi irgendwo vor der Drachenstation. Also gab es nur zwei Richtungen: Von der Station weg und dahin zurück. So konnte er alles erreichen.
Obwohl sich Horst das beharrlich einredete, ahnte er doch, dass er sich ohne Anna sehr schwer zurechtfinden würde. Dabei koordinierte er Fahrpläne! Ach nein, er hatte sie koordiniert. All die Karten voller bunter Linien und weißer Punkte in seinem Büro, nein, falsch, seinem ehemaligen Büro, waren für Außenstehende sehr verwirrend, er dagegen fand sich darin blind zurecht.
Auf jeden Fall reichte seine Strategie, um den Hochgelehrten Platz zu finden, auf dem das Hautgebäude der Akademie stand. Das hätte er aber auch ohne die Strategie geschafft, denn Akademie und Station wurden durch eine breite, schnurgerade Straße verbunden.
Horst musste feststellen, dass er nicht allein war: Zahlreiche Reisende waren vom Gewirr der Straßen ebenso verwirrt, und sie hatten nicht einmal so tolle Ideen wie Horst. Geldgierige oder (etwas seltener) freundliche Menschen lauerten ihnen überall auf. Allein auf dem Hochgelehrten Platz wurden den drei sechsmal eine Stadtführung, zweimal ein Kebab, zweimal gebrannte Mandeln, dreimal frischer Bluttee und einmal eine sofortige Trauung (inklusive Bankett) im Tempel des großen Propheten Peter Person angeboten.
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Horst Meier und die Stange des Schreckens
FantasyHorst lebt ein friedliches Leben in den Diensten des Stufenimperiums und koordiniert Flugpläne für Drachen. Aber weil es ziemlich langweilig wäre, nur über so ein friedliches Leben zu schreiben, gelangt Horst eines Tages zufällig an ein Buch, das sä...