Eberhard der Eremit blickte hinab auf die Welt und meditierte. Er versuchte, seine Seele mit dem Universum in Einklang zu bringen, die Kraft der Natur zu spüren und zu vergessen, dass er schon wieder Hunger hatte. Denn wer ständig aß, konnte nie die höheren Sphären des Kosmos ergründen.
Mit dem Fasten hatte Eberhard noch gewisse Probleme. An die Sitzhaltung hatte er sich hingegen schon ziemlich gut gewöhnt. Für einen einsamen, spirituellen Eremiten kam natürlich kein bequemer dicker Polstersessel in Frage, auf den er sich einfach draufschmiss. Nein, Eberhard hatte lange an der perfekten unbequemen Sitzhaltung gefeilt, und auf das Ergebnis war er sehr stolz. In tagelanger Arbeit hatte er Stein um Stein auf einen schmalen Felsvorsprung geschleppt. (Da dies eine Fantasygeschichte ist, muss zwangsläufig irgendwo das Wort „Felsvorsprung" auftauchen. Was wäre das auch für eine Fantasywelt, in der die Felsen so glatt sind, dass sich kein kletternder oder fallender Held daran festhalten kann?) Er baute einen hohen Steinturm, wie ihn manchmal Wanderer als Wegmarkierung hinterlassen. In dem Fall taugte der Turm als Wegmarkierung leider nichts, denn jeder Wanderer, der ihm folgen würde, würde unweigerlich die ganze Stufe hinab in den Tod stürzen. Als unbequemer und gefährlicher Sitzplatz taugte der Steinturm dagegen äußerst viel, mehr noch als jedes Nagelbrett. Zumal er noch so ganz leicht nach vorne geneigt war. Eine unüberlegte Bewegung, und Eberhard würde mitsamt einer Steinlawine in den Abgrund rollen. Aber ein Eremit machte keine unbedachten Bewegungen. Auch wenn da gerade ein Steinchen wegrollte, und noch eins... nein, alles gut. Die Steinchen waren wieder zur Ruhe gekommen.
Nachdem er gestern eine spirituelle Wanderung durch die Steppe von Distreal 9 unternommen hatte, wollte er heute wieder auf seinem angestammten Platz meditieren.
Auch an die Kleidung hatte sich Eberhard schon gewöhnt, beziehungsweise an deren Abwesenheit. Ein echter Eremit schaffte sich natürlich nicht mit irgendwelchen wärmenden Stoffen zusätzlichen Komfort. Ein bisschen kalt, aber das musste man eben aushalten.
Trotzdem war Eberhard immer noch unzufrieden mit seinem Äußeren. Seine Haut weigerte sich, alt und faltig zu werden, und sein Bart reichte immer noch nicht bis zum Boden. Er reichte nicht mal bis zum Hals. Genau genommen war da nicht mal ein Bart, nur ein paar Stoppeln, die einfach nicht wachsen wollten! Wie sollte man da weise und erleuchtet aussehen? Natürlich sah ihn ohnehin kaum jemand, aber ein guter Eremit sollte doch gewiss nicht wie jemand aussehen, der nach ein paar durchzechten Nächten seine Hose verloren hatte?
Eberhards Magen knurrte so laut, dass man ihn vermutlich bis zum Grund der Stufe hören musste. Na schön. Spüre die Kraft des Universums und finde Einklang mit der Natur... die Natur... das waren alle Tiere und Pflanzen und Menschen... natürlich gab es davon nicht besonders viele, in dieser kalten Steppe wuchsen bloß ein paar Gräser... aber weiter hinten kamen ja dichte Nadelwälder, und in denen lebten vermutlich auch lauter Tiere, mit denen er sich im Einklang befinden musste... sie waren alle Teil desselben harmonischen Kosmos: er, die Stufe, die Steine, die Gräser, die Wälder, und in den Wäldern die Rehe und Hirsche und Waldschrappern und Greifen und Wildschweine... Wildschweine... was gäbe er jetzt nicht für ein leckeres gebratenes Wildschwein...
Verdammt, so wurde das nie was! Konzentration, und nochmal: Er befand sich in harmonischer Einheit mit den Wildschweinen und Enten und Gänsen und Hirschen... Hirschgulasch... nein falsch, mit den noch lebenden Hirschen und den Sträuchern und Bäumen... hm, Baumkuchen... Quatsch, ganz normale hölzerne Bäume, und mit den Steinen und der Erde und den Felsen der Stufe und dem Wesen, das da unten keuchend näher kam... Moment, was?
Aus dem Abgrund der Stufe erklang lautes, erschöpftes, offenbar menschliches Keuchen.
Das war unmöglich. Wer konnte denn diese kilometerhohe Wand erklimmen? Eberhard wusste zwar, dass dem, der vollständigen Zugang zu den innersten Geheimnissen des Kosmos' gefunden hatte, nichts unmöglich war, aber das hier war ganz klar unmöglich, für alles und jeden.
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Horst Meier und die Stange des Schreckens
FantasiaHorst lebt ein friedliches Leben in den Diensten des Stufenimperiums und koordiniert Flugpläne für Drachen. Aber weil es ziemlich langweilig wäre, nur über so ein friedliches Leben zu schreiben, gelangt Horst eines Tages zufällig an ein Buch, das sä...