Martin stierte mit glasigen Augen in die Gegend. Dann zuckte er erschrocken zusammen.
„Sie kommen."
Als er sich umdrehte, steckte Horst die zerknüllte Buchseite in seiner Hand hastig in die Tasche. Dann klappte er das Buch zu.
„Wer? Die Widerstandsleute?"
„Jep. Kannst du deinen Drachen nicht aufwecken?"
„Um Gottes Willen. Wir haben den gestern total fertiggemacht. Wenn wir den so früh gleich wieder wecken, wird der richtig grantig. Äh... hast du denn gesehen, wie weit die von der Kante weg sind?" Mal sehen, ob an diesen Visionen etwas dran war.
„Die sind schon an der Kante."
„Was?"
Nervös sah Horst zum Abgrund der Stufe. Es waren keine anderen Drachen in Sichtweite. Aber das musste ja nun nichts heißen. Die Kante war lang.
„Bist du ganz sicher?"
„Klar."
„Na, dann weck ich mal den Drachen."
Er zog die Pfeife aus seinem Overall. Als der Drache den Pfiff hörte, grunzte er unwillig. Als er noch einen längeren Pfiff hörte, grunzte er etwas länger und unwilliger, bevor er schwerfällig aufstand.
Normalerweise wäre Horst niemals eingefallen, mit einem so erschöpften Tier eine Stufe herunterzufliegen, aber dank seiner Begegnung mit Komma und seiner Abneigung gegen eine zweite Begegnung wäre es ihm nun niemals eingefallen, mit dem erschöpften Tier die Stufe nicht herunterzufliegen.
Martin setzte sich in seinen Sitz, so schnell erkonnte. Horst ebenfalls. Er zog die Startleine, ächzend flatterte der Drache in die gewünschte Richtung. Nach ein paar Flügelschlägen hatte er die Kante bereits erreicht. Allerdings flog er ungewöhnlich niedrig. Als er die Kante überquerte, streiften seine Füße den Boden. Mehrere Steine rollten in den Abgrund. In den ausgesprochen... tiefen... Abgrund... oh Gott, da sollte sie dieses klapprige Vieh runterbringen?
„Horst?"
„Ja?"
„Hast du eigentlich Munition dabei?"
„Wie bitte?"„Munition. Irgendwelche Waffen."
„Wieso jetzt?"
„Da kommt ein Drache."
„Kann das nicht auch ein Drache vom Imperialen Netz sein?" Eine verzweifelte Hoffnung, das war ihm klar. An dieser Stelle verlief normalerweise keine Strecke des Drachennetzes.
„Ich denk mal nicht. Oder fliegt ihr immer mit nem Messer am Hals?"
Horst wurde von Panik erfasst, aber nach einer Weile gewann das rationale Denken wieder die Oberhand. Er hatte keine Waffen, aber: Wenn Komma irgendwie versuchen würde, sie mitten auf einem Stufenflug anzugreifen, würde sie riskieren, selbst abzustürzen. Das konnte sie doch nicht machen, oder? Und wenn er erst einmal unten war, würde sich die Imperiale Armee um sie kümmern. Ganz in der Nähe von Utanfeste befand sich eine Kaserne.
Horst fand einen bequemen, aber dennoch flotten Fallwind, der sie ganz sanft abwärts trug. Der andere Drachenpilot steuerte geradewegs auf sie zu, ignorierte alle Steig- und Fallwinde und wurde entsprechend hin- und hergeweht. Verzweifelt sträubte sich der Drache gegen diesen schwachsinnigen Kurs, flatterte und kreischte, während er und seine Insassen ständig von starken Windstößen gebeutelt wurden. Das Tier schien noch schwächer als Horsts Drache zu sein.
Trotzdem kam er immer näher, denn der Horsts Fallwind war wirklich nicht besonders schnell. Es sah fast so aus, als wolle Komma einen Drachen in den anderen krachen lassen. Aber das hatte sie doch nicht im Ernst vor? Das wäre ja noch beknackter als dieser gescheiterte Terroranschlag, den diese Zwerge damals geplant hatten. (Glücklicherweise verfehlten besagte Zwerge ihr Ziel, die zwei riesigen Bergfriede einer großen imperialen Burg, da der entführte Drachenpilot ohnmächtig wurde und der gesamte Drache mit vollem Karacho gegen eine Stufenwand flog, statt auf die Gebäude darunter. Seitdem diskutierten die Gouverneure des Imperiums, ob es wohl im Falle einer weiteren Entführung erlaubt wäre, den Drachen abzuschießen, bevor er sein Ziel erreichte. Da konnte man sich nie so richtig einigen: Einerseits wäre es nicht so schön, wenn der Stützpunkt zerstört würde, andererseits wäre es natürlich auch schade um den Drachen. Es wurde allerdings auch argumentiert, einen Drachen könne ohnehin nur ein gut gezielter Pfeil eines Helden in die geheime empfindliche Stelle des Drachen erledigen. Letztlich musste also der Held selbst die Entscheidung treffen. Falls gerade einer da war.)
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Horst Meier und die Stange des Schreckens
FantasyHorst lebt ein friedliches Leben in den Diensten des Stufenimperiums und koordiniert Flugpläne für Drachen. Aber weil es ziemlich langweilig wäre, nur über so ein friedliches Leben zu schreiben, gelangt Horst eines Tages zufällig an ein Buch, das sä...