Wohin man sich wenden muss, damit die Handlung einen ganz neuen Impuls bekommt (4/6)
Distreal 9,75 war fast komplett mit Wald bedeckt. Weiter treppab befand sich der sogenannte Sumpfwald, aber die Sümpfe dort hatte man schon lange trockengelegt. Und weiter treppauf nur noch mehr komplett langweiliger Wald.
Mitten in diesem langweiligen Wald lag die Hauptstadt von Distreal 9,75. Sie hieß Landeshauptstadt von Distreal 9,75. Zugegeben, dieser Name ist noch langweiliger als der Wald. (Bevor das Imperium kam, hatte die Stadt nie einen Namen gehabt, denn die Bewohner verreisten nur selten und waren der Meinung, wenn alle anderen Städte auf der Welt Namen hätten, dann reichte das ja, um sie von ihrer Stadt zu unterscheiden, also bräuchte sie keine genaue Bezeichnung. Das Imperium war da anderer Meinung und verpasste dem ganzen Distreal zur Strafe zwei Nachkommastellen und der Stadt diesen bescheuerten Namen.) Einerseits freute sich Horst, als sie nach vier Tagen die Stadt erreichten. Der langweilige Wald hatte ihn schon in den Wahnsinn getrieben. Dabei hatte er ja den Großteil seines bisherigen Lebens am Schreibtisch verbracht. Wenn das also sogar er sterbenslangweilig fand...
Andererseits war es nun aus und vorbei mit dem Schutz des Waldes. Und wenn sie ihr Ziel erreichen wollten, mussten sie etwas Riskantes tun.
„Meinst du wirklich?"
„Wahrscheinlich, ja. Wenn wir laufen, brauchen wir womöglich Wochen. Und bis dahin geht uns längst das Geld aus."
„Und wenn sie uns erkennen?", fragte Anna besorgt.
„Das ist nur ein Binnenflug. Da passen sie vielleicht nicht so genau auf. Wir setzen uns auf die hintersten Sitze und verhalten uns ganz unauffällig. Obwohl..."
„Was?"
„Ich weiß nur nicht, wie wir die Flugkarten kaufen sollen."
„Das macht dann wohl Martin."
Puh, Gott sei dank nicht ich, dachte Horst. Trotzdem fragte er: „Wieso denn gerade er?"
„Ist doch logisch: Wir alle werden gesucht. Das Imperium weiß, wie wir aussehen. Aber das Einzige, was sie in dem ganzen Trubel von Martin mitbekommen haben, ist wahrscheinlich, dass er ein komischer Alter mit langem Bart ist."
„Das ist ja auch auffällig genug."
„Genau. Und deshalb gibt es nur eine Möglichkeit."
Der Wächter lief ein Stück hinter ihnen.
„Martin?", rief Anna.
„Es heißt Verexus!", antwortete... Verexus.
„Okay, ähm, Verexus?"
„Ja?"
„Wir wollten dich fragen, ob du für uns alle Flugkarten kaufen kannst."
„Wenn ihr mir das Geld gebt."
„Klar, machen wir. Aber dazu müssen wir dich ein bisschen... verkleiden."
„Wollt ihr mir ein Kleid anziehen? Ich weiß nicht, ob das glaubwürdig rüberkommt. Ich meine, klar, ab einem gewissen Alter sehen beide Geschlechter gleich hässlich aus, aber..."
„Nein, nein. Du bleibst ein Mann. Aber, sagen wir mal, du verlierst ein wichtiges Merkmal deiner Männlichkeit."
Die unmittelbare Reaktion darauf bestand darin, dass Martin schreiend davonrannte.
„Ich will ja nichts sagen, aber das hast du nun wirklich missverständlich ausgedrückt.", meinte Horst.
„Wie jetzt? Ist ihm sein Bart echt so wichtig?"
Das lange weiße Ding sah aus wie ein prähistorischer Schal, den nie jemand gewaschen hatte. Trotzdem wollte Martin ihn unbedingt behalten. Er steckte ihn die Tasche und betastete sein... naja, nicht direkt reines, aber doch... anderes Gesicht.
Inzwischen tat es Anna leid. Martins alias Verexus' kosmische Rolle im Gefüge der Welt war nun mal der eines schlauen, schrulligen Alten mit langem Bart. Ohne den Bart wirkte er immer noch alt, aber nicht unbedingt wie jemand, den man nach dem Sinn des Lebens fragt und der daraufhin irgendwas Witziges, Intelligentes und trotzdem nicht wirklich Hilfreiches antwortete.
Und das alles nur für drei Karten zum Sparpreis mit Drachenbindung.
Die Drachenstation befand sich mitten in der Distreal-Hauptstadt. Man hatte offenbar vor Kurzem versucht, sie ein wenig dem Stadtbild anzupassen, indem man das Eisen mit frischen Brettern aus Mittelstufler Hochstämmen verkleidete. Horst war ein wenig verblüfft, dass das funktionierte: Die aggressive Hässlichkeit der eisernen Gebäude hatte tatsächlich stark abgenommen. Da störte es nicht einmal, dass das eine oder andere Brett ein wenig angekokelt war.
„Wohin müssen wir jetzt?", fragte Anna.
Horst schaute auf eine Tafel.
Plattform 1: Grünflügel 24, Nach Zwergbach, Über: „Fußnote", Welling, Sprudeling
Plattform 3: Graugleiter 10, Nach: Oberbriks, Über: Sumpfsam, Klein-Hallo, Hallo, Unterbriks, Bemerkungen:...
„Plattform drei... oh nein."
„Was ist?"
Ca. 30 min später, stand dort. Da kam auch schon ein Mitarbeiter angeschlurft, wischte lustlos mit der rechten Hand die Drei in der 30 weg und ersetzte sie durch eine Vier.
„Dann warten wir eben die 40 Minuten.", meinte Martin.
„Und wenn der das jetzt alle zehn Minuten ändert?", fragte Anna besorgt.
„Das ist nicht gut. Wir sollten nicht so lange hier herumstehen, sonst erkennt uns jemand." Nervös drückte sich Horst hinter einen eisernen Pfeiler.
„Na, nicht so ängstlich.", seufzte Anna. „Dann gehen wir eben solange in die Stadt."
Horsts Verhalten war ihr ein Rätsel. Immerhin war er es, der diesen Flug vorgeschlagen hatte. Sie hatte gehofft, er würde sich ein wenig verändern, nachdem sie so knapp entwischt waren. Aber so übertrieben vorsichtig, wie er war, schien er noch ganz der Alte zu sein. Warum stellte er sich dann nicht gleich dem Imperium und hoffte auf eine gerechte Verhandlung? Es gab doch sicher viele, die ihn als loyalen Imperialisten kannten und das bestätigen würden. Es sei denn... Er hatte immer noch nicht erzählt, wie er an diese mächtigen Gegenstände gekommen war. Hatte er sich dabei tatsächlich etwas Schlimmes zu schulde kommen lassen? Aber was? Und warum zum Geier ausgerechnet Horst?
Als sie zur Station zurückkehrten, schaute Horst immer wieder nervös um sich. Er befürchtete wohl, jemand habe sie vorhin hier erkannt und ihnen aufgelauert, da er wusste, welchen Drachen sie nehmen würden. Die Verspätung hatte es sich inzwischen bei 60 Minuten gemütlich gemacht. Von denen waren immerhin schon 40 um.
„Horst?", fragte Martin.
„Ja?"
„Was sind Verzögerungen im Betriebsablauf? Das steht da auf der Tafel."
„Na, dass irgendwas nicht stimmt im... im Betriebsablauf. Darum müssen die sich erst kümmern."
„Hm. Verzögerungen... klingt wahrscheinlich besser als Unser Pilot ist noch verkatert nach der letzten Nacht."
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Horst Meier und die Stange des Schreckens
FantasiHorst lebt ein friedliches Leben in den Diensten des Stufenimperiums und koordiniert Flugpläne für Drachen. Aber weil es ziemlich langweilig wäre, nur über so ein friedliches Leben zu schreiben, gelangt Horst eines Tages zufällig an ein Buch, das sä...