Kapitel Acht - BalanceAkt

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Das nächste Mal wachte ich auf, als einige Sonnenstrahlen in mein Gesicht fielen. Gequält öffnete ich die Augen einen Spalt weit und blinzelte Richtung Fenster. Diana schob gerade die Jalousie nach oben und drehte sich schwungvoll um: "Aufstehen, du Schlafmütze!" sagte sie voller Energie aber dennoch auffällig leise. Mir fiel Lennja ein, die wahrscheinlich auch noch schlief. Ich war ähnlich orientierungslos wie ich es in der letzten Nacht gewesen war. Schwerfällig richtete ich mich auf und rieb mir durchs Gesicht. Den restlichen Morgen werde ich in Anbetracht der unspektakulären Ereignisse, die natürlich nicht minder meine Gefühle verwirrten als andere Situationen die letzten Tage, kurz fassen. Aufstehen, Frühstücken, Spielen und dann war eigentlich auch schon wieder der halbe Tag gelaufen. Für heute Abend 17 Uhr hatte ich meine Bahn gebucht. Es waren jetzt noch knappe vier Stunden. Eine halbe Stunde brauchte ich bis zum Bahnhof, wenn ich zu Fuß ging. Ich hatte also noch gute drei Stunden. Heute war ein wunderschöner Herbsttag. Die Bäume, die die Straße säumten, schaukelten im Wind und verloren nach und nach immer mehr bunte Blätter. Ich stand nachdenklich am Fenster und blickte mich in der wunderschön städtischen Natur um. Hier bei Diana wirkte irgendwie alles friedlich und ich konnte überall diese Leichtigkeit spüren, mit der manche Menschen durchs Leben gingen. Erleichtert atmete ich aus. "Flo?", ich erschrak, hatte gar nicht bemerkt, dass Diana sich neben mich gestellt hatte und ebenfalls nach draußen blickte. Ich sah sie fragend an. "Wollen wir mit Lennja in den Park gehen? Der große Tiergarten ist gar nicht weit von hier." Sie lächelte, während ihr Blick immer noch nach draußen gerichtet war. Mir gefiel die Idee ziemlich gut. Gerade für Lennja musste der Park doch eine unheimlich große Freiheit ausstrahlen. Ich packte die paar Sachen zusammen, die ich hier gebraucht hatte und trug meinen Koffer mitsamt meiner Jacke und meines Handys in den kleinen Flur. Ich würde die vetraute Gemütlichkeit vermissen. Und auch Diana, wenn ich ehrlich war. Vielleicht war es auch einfach die familiäre Situation mit einem Kind, nach der ich mich innerlich sehnte. Ich unterbrach meinen Gedankengang selbst. Ich musste meine Gedanken schleunigst wieder in den Griff kriegen. Meine Psyche wankte schon eine Weile und langsam sollte ich sie mal wieder ausbalancieren. Ich hoffte, dass ein Urlaub weit weg von allem, mir dabei helfen konnte. Doch vermutlich würde ich selbst an der Ostsee auf verrückt gewordene Fans treffen, die eigentlich nur nach Fotos oder Autogrammen geierten. Aber jetzt bloß keine Abneigung aufkommen lassen. Das macht doch keinen guten Eindruck! Diana war noch im Bad. Die Tür war nur angelehnt und durch den Spalt blitzt ein leichter Lichtstrahl. "Kannst du mir helfen?" Erschrocken dreht ich mich um. Hinter mir stand Lennja. Einen Arm hatte sie in einem dunkelblauen Strickpulli, mit der anderen versuchte sie vergeblich ihren Kopf durch den engen Rollkragen zu zwängen. Ein leichtes Lächeln schlich sich in mein Gesicht. "Na klar kann ich das. Hat Mama dir das rausgelegt?" sagte ich, während ich mich vor ihr auf den Boden kniete. Sie nickte, was das Ganze noch schwerer machte, als es sowieso schon war. Unter höchsten Schwierigkeiten zog ich Lennja den Pullover wieder aus und entkrempelte das Chaos. "Da hat sie sich aber nicht so viel Mühe gegeben." lachte ich und zog der Kleinen den Pulli über den Kopf. Die kleinen Ärmchen steckte sie von alleine aus und ich nahm anschließend ihre dünnen Zöpfchen und legte sie auf Lennjas Schultern. "Warte." nuschelte sie und flitzte mit wackeligen Schritten in ihr Zimmer. Als sie zurück kam, trug sie eine geblühmte Regenjacke in der Hand und grinste bis über beide Ohren. Ich zog ihr die Jacke, dicke Socken und Gummistiefel an und setzte ihr eine dünne Mütze auf. Mit den ganzen Klamotten sah sie jetzt aus wie ein Schneemann. "Maaamaaa. Kooomm." schrie sie durch die ganze Wohnung, sodass es mir in den Ohren wehtat. Diana kam in den Flur, zog sich ihre Jacke über und warf mir einen liebevoll dankenden Blick zu. Auch wenn wir uns in diesem Moment nur anlächelten, hatte er für mich etwas Magisches. Oh Gott, hoffentlich hatte diese Verwirrtheit bald ein Ende. Vermeintlich entschlossen schnappte ich mir meine Sachen und trug sie nach unten, während Diana mit Lennja an der Hand hinter mir herlief. Unten angekommen verstaute ich meine Koffer in Dianas Auto, damit ich nachher gleich weiter zum Bahnhof gehen konnte. Wie eine Familie gingen wir durch Berlin. Diana links, ich rechts von Lennja. Ich hoffte inständig, dass uns niemand erkannte und da es auf den Straßen heute ziemlich leer war, sollte mein Wunsch in Erfüllung gehen. Kreischende Fans und die nervigen Fragen hätten mir jetzt noch gefehlt. Wer uns letztendlich aufhielt, war Lennja, die nicht an dem Balancier-Balken vorbeikam, ohne wenigstens einmal über ihn gelaufen zu sein. Kinder eben. Schwungvoll hoben wir sie nach oben und sie verkampfte sofort. Kein Wunder. Einem Kind kann man noch so oft sagen, dass etwas zu schwierig sei. Es wird sich erst zufrieden geben, wenn es selbst festgestellt hat, dass es nicht funktioniert. Das ist nunmal die Natur des Menschen. Mit der Zeit wurde es immer besser und schließlich reichte es schon, dass sie sich nur noch an meiner Hand festhielt. Natürlich stützte ich sie mit der anderen Hand zusätzlich von hinten, aber das muss ja niemand wissen. Am Ende des Balkens griff ich ihr unter die Arme und drehte sie einmal im Kreis um mich herum, bis sie auf meinem Arm saß. Ihr Lachen steckte mich an. Frohen Mutes trug ich sie den restlichen Weg bis zum Park. Nebenbei sangen wir "Der Herbst, der Herbst, der Herbst ist da". Lennja gluckste und versuchte immer wieder in Dianas und meinen Gesang einzusteigen. Im Park angekommen setzte ich sie ab und urplötzlich fing sie an, vor mir wegzulaufen. Auf der riesigen Wiese spielten wir Fangen und Verstecken, bewarfen uns gegenseitig mit Blättern. Wenn dieses Kind die nächste Nacht nicht durchschlief, dann wusste ich auch nicht weiter. Die Zeit verging ungewöhnlich schnell und es fing schon an zu dämmern als wir bemerkten, dass ich langsam losgehen musste. Die beiden begleiteten mich bis zum Auto und nach einer flüchtigen Umarmung setzte ich mich in Bewegung. Ich war noch nicht weit gegangen, da hörte ich Lennja rufen "Papa!". Blitzartig drehte ich mich um. Aus der anderen Richtung lief Arne auf die Beiden zu. Diana sah noch immer gedankenverloren in meiner Richtung und bewegte sich dann langsam zu ihrem Mann. Ein leichtes, fast gezwungenes Lächeln ließ sich auf ihrem Gesicht erkennen, bevor sie ihrem Mann einen innigen Kuss gab. Ich wollte die Eifersucht nicht an mich heranlassen. Ging schnell weiter und versuchte das Bild aus meinem Kopf zu verbannen. Schlagartig waren alle Illusionen eines friedlichen Familienlebens zerstört. Völlig außer Ballance gebracht, zersplittert wie ein Spiegel, ausgelöscht wie ein nächtlicher Traum. Dieser hier war aber real... oder eben auch nicht mehr. Ich dachte die ganze Zugfahrt darüber nach, wie es gewesen wären, wenn ich damals mit Diana zusammengekommen wäre und nicht Arne. Hätten wir auch Kinder bekommen? Hätten wir geheiratet? Wären wir heute noch glücklich? Hätte das unsere Freundschaft zerstört? Jetzt war definitiv nur eines zerstört. Der wenige Optimismus, den ich die letzten Tage geschöpft hatte. Die Zeit verging unheimlich schnell, wenn man so viel grübelte. Vielleicht war ich zwischendurch auch eingeschlafen. Mir egal.

Gegen 20 Uhr hatte ich im Hotel eingecheckt, um absolute Diskretion gebeten und betrat nun mein Zimmer. Heute war der Tag, an dem "Terror" ausgestrahlt wurde. Vielleicht könnte ich dabei ein wenig abschalten. Wohl eher nicht. Abwesend starrte ich mich selbst an. Ich beobachtete, wie ich im Gerichtssaal versuchte, meinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
Darf man nun 164 Menschenleben gegen Zehntausende aufwägen?

Wer sagt uns denn, was richtig ist? Wer hat denn festgelegt, dass Mitgefühl gut und Egoismus böse ist? Unsere psychische Stabilität bestimmt unsere Entscheidungen und die Entschlusskraft, mit der wir vorgehen.
Ich, für meine Verhältnisse, nahm mir vorerst ein Beispiel an Lennja und versuchte meinen persönlichen Balance-Akt erfolgreich zu über stehen. Ab morgen würde ich einen Neustart versuchen. Und es würde mir gelingen.
Welt für Florian. Negativität aus. Optimismus an. Over and out.

Soll ich mal pusten? (Florian David Fitz FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt