Kapitel 6

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Placebo dröhnte mir mit „Every Me Every You“ in den Ohren, als ich bemerkte, dass mich Zayn schon wieder (oder immer noch?) anstarrte. Ich beschloss, ihn zu ignorieren und lauschte der weichen Stimme von Brian Molko. Das waren noch Zeiten, als Sänger noch singen konnten... Inzwischen hatte auch die Wirkung des Baldrians eingesetzt und ich fühlte mich wesentlich ruhiger und entspannter als noch vor einer halben Stunde.

Ob Zayn noch sauer war? Weshalb war er eigentlich sauer? Ich konnte immerhin wirklich wenig dafür, dass er mich ganz offensiv anmachte, obwohl er eine „Süße“ hatte. Verstohlen warf ich ihm einen kleinen Seitenblick zu und bemerkte, dass er aus dem jetzt Fenster sah. Seine Stirn ruhte an dem Glas und feiner Nebel hatte sich an dem Bereich auf der Scheibe gebildet, wo er ausatmete. Angestrengt kniff er die Augen zusammen und flüsterte irgendetwas vor sich hin. Auf mich machte es den Eindruck, als würde er nachdenken.

Bevor er mich noch erwischte, drehte ich hastig meinen Kopf zur Seite und schloss die Augen wieder. Jetzt hörte ich ein altes Album der Sex Pistols. Die Texte waren so gut und so wahr, ich könnte darin versinken.

„Casey“, sagte eine leise Stimme neben mir und ich runzelte die Stirn und riss den einen Stöpsel aus meinem Ohr. „Casey“, wiederholte Zayn und sah mich zerknirscht an, „Tut mir leid, wenn ich manchmal ein bisschen abweisend bin. Ich meine das nicht so.“ „Nein, ich kann das verstehen“, erklärte ich schnell und winkte ab. Immerhin hatte er eine „süße“ Freundin, da wäre es doch äußerst unschicklich von ihm, sie zu betrügen. Und auf eine gewisse Art und Weise war es schon vorneherein klar gewesen, dass so ein gutaussehender Junge längst vergeben war. Bestimmt war seine Freundin ebenfalls ein Model, oder sah zumindest so aus.

„Wirklich?“, strahlte er und sene Augen sprühten elektrische Funken. Schnell versicherte ich ihm, dass es okay war und er atmete erleichtert auf, „Man, ich dachte, du wärst jetzt vielleicht beleidigt und würdest den ganzen Flug nicht mehr mit mir reden und das würde ich ehrlich gesagt nicht überleben, zumal ich dich so gut wie noch gar nicht kenne. Und dich gerne kennenlernen würde.“ Bei seinem letzten Satz zwinkerte er mir zu und ich konnte nicht anders, als so breit zu grinsen, dass mir die Mundwinkel wehtaten.

„Ich bin nicht so der Typ Mädchen, der schnell beleidigt ist“, erklärte ich bescheiden und fuhr mir durch die glatten Haare. Zayn nickte: „Du bist ein ziemlich cooler Typ Mädchen, weißt du das?“ In meinem Kopf sammelte sich augenblicklich jeder tropfen Blut, der in meinem gesamten Organismus vorhanden war und ich begann schon nach Sekunden, an den Händen zu schwitzen. Ich war ein cooler Typ Mädchen. „Wow“, hauchte ich und hätte mich im Nachhinein für diesen absolut stumpfen Kommentar ohrfeigen können. Klar, das kam mit Sicherheit total cool rüber, wenn sein Körper sofort anfängt, verrückt zu spielen, sobald ein männliches Wesen einem ein Kompliment macht. „Nein, ernsthaft jetzt, du bist die erste weibliche Person, die ich kenne, die Joy Division mag. Ich meine... das ist Wahnsinn.“

Wieder errötete ich nur auf eine lächerliche Art und Weise und knibbelte an meinem Nagelbett herum. Die kleine Kruste, die sich gebildet hatte, riss erneut auf, aber es tat kaum weh. Mir lag die Frage auf der Zunge, ob seine Freundin denn Joy Division mochte, doch ich verkniff sie mir besser, um nicht schnippisch oder eifersüchtig zu wirken. Obwohl beides zu so gut wie 100% zutraf.

„Einmal war so ein Bandfestival in Perth und mein Dad ist damals extra mit mir hingefahren, nur, damit ich einmal gute Musik zu hören kriege. Das war ein echtes Erlebnis. Punkbands sind einfach die besten“, verklärt lächelte er gen Himmel. Warte, wir befanden uns ja im Himmel. Ich musst unwillkürlich lachen. "Was ist?", fragte er und drehte verwirrt den Kopf. Ich machte eine abwinkende Geste: "Nichts... ich musste nur gerade darüber nachdenken, dass, egal, wohin man schaut, man von hier aus immer in den Himmel guckt." Nachdenklich zupfte er an seiner Lippe: "Stimmt. Du hast recht. So habe ich das noch nie gesehen." Zwischen und breitete sich ein philosophisches, aber dennoch unangenehmes Schweigen. Warum war es so schwer, eine Konversation mit ihm aufrecht zu erhalten? „Warte.. Wo waren wir stehengeblieben?", ich bemühte mich, möglichst unbefangen zu klingen, "Kommst du aus Australien? Du hast doch einen britischen Akzent?“ Zayn schüttelte den Kopf. „Nein, mein Dad hat schon immer dort gelebt. Meine Mum hat sich im Urlaub in ihn verliebt und dann erst mich bekommen, fünf Jahre später meine Schwester. Und naja, dann haben sie festgestellt, dass sie nicht zusammenpassen, Mum ist zurück nach England gegangen und wir haben Dad regelmäßig besucht.“ Das klang nach einer komplizierten Familiengeschichte. Längst nicht so kompliziert wie meine, aber das war auch nahezu unmöglich. Andererseits war es sicherlich auch ziemlich aufregend, einen Dad in Australien zu haben, einen, den man in den Ferien besuchen konnte, um dann am ersten Schultag immer am meisten zu erzählen zu haben.

„Und du?“, erkundigte er sich, „Was machst du in Australien, noch dazu an Weihnachten?“ „Mein Dad wohnt in Perth. Mit seiner Verlobten und seinem Sohn. Mach dich gefasst auf den kreativen Namen, den sie ihm gegeben haben: John. Ich meine, er hat seinen Sohn John genannt!? Jedenfalls... ich feiere Weihnachten mit ihnen. Er hat mich eingeladen“

Zwar kannte ich diesen Jungen kaum, doch es tat mir trotzdem irgendwie gut, ihm das alles zu erzählen. Aufmerksam hörte er zu und kratzte sich hin und wieder am Kinn. „Und bei sowas machst du mit? Kennst du die Frau überhaupt?“ Ich grunzte: „Nein, das ist es ja! Ich kenne weder die Frau noch das Kind und meinen Vater leider auch nicht mehr so gut, wie ich das immer dachte. Das beste kommt noch: Diese Evie, also seine Verlobte, schickt mir einfach ein hunderte von Euro teures Kleid und befiehlt mir, es anzuprobieren und mitzunehmen, damit ich, und hier zitiere ich, „beim Bankett dem Anlass entsprechend gekleidet bin“. Ich bin fast aus allen Wolken gefallen, als ob ich Kleider tragen würde!“, empört schnaubte ich auf. Diese Sache brachte mich immer noch auf die Palme.

Zayn lachte sein wirklich wundervolles Lachen und ich musste ebenfalls lächeln. „Natürlich trägst du keine Kleider“, wisperte er beinahe unhörbar und sah verklärt zu Boden. Spätestens jetzt, wo er gerade so schaute, war mir klar, dass ich diesen Jungen so schnell nicht vergessen würde. „Ich trage aus Prinzip keine Kleider, das ist eine absolut frauenerniedrigende, partriachalische Vorstellung, die ich nicht ausleben werde. Ich werde unter keinen Umständen dieses Kleid anziehen!“, ich verschränkte die Arme vor der Brust wie ein bockiges Kind.

Zayn jedoch blickte mir so in die Augen, als hätte ich soeben etwas Weltbewegendes gesagt, was die Klimakatastrophe verhindern könnte oder so.

„Noch dazu ist es eine Unverschämtheit, dass ich da überhaupt hin muss. Er hat mich und meine Mutter verlassen und sich kaum blicken lassen, all die Jahre nicht. Jetzt auf einmal meint er, er kann mit seiner perfekten Familie auftrumphen und auch noch verlangen, dass ich da brav mitspiele. Was für ein Idiot“, in zwischen hatte ich mich richtig in Rage geredet und fuchtelte wild mit den Händen in der Luft herum.

„Ja, unerhört von ihm, zu verlangen, dass du auf einem Bankett angemessen angezogen bist“, spöttelte er und ich warf ihm einen Todesblick zu, brach jedoch wenige Sekunden später in Lachen aus. Er hatte ja Recht. „Warte... ist dein Vater reich oder so? Wieso geht ihr an Weihnachten zu einem Bankett?“, er runzelte die Stirn und rümpfte leicht die Nase … was immer noch sexy aussah. Langsam wurde seine Schönheit wirklich unerträglich nervig.

Ich gestand, dass ich absolut keinen blassen Schimmer hatte, wie die finanzielle Situation meines Vaters genau war. Alles, was ich wusste, war, dass ich ihn nicht treffen wollte. Evie und diesen komischen John schon gar nicht. Also zuckte ich nur mit den Schultern. 

23 Stunden - {zayn malik a.u.}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt