Kapitel 10

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Schweigen breitete sich über uns wie ein dunkler, schwerer Schleier, der mich zu ersticken drohte. Wir hatten uns nichts zu sagen. Traurig realisierte ich, dass wir letztendlich wohl doch nur zwei sich Fremde waren, die nie etwas anderes sein könnten als Fremde. Eine kurze Zeit hatte ich wohl geglaubt, wir könnten mehr sein, aber so einfach war es nicht. Er hatte alles kaputt gemacht. Es war seine Schuld, alles seine Schuld, und dennoch war mein Hass auf ihn die schlimmste Sorte Liebe, ein Sehnen, ein fehlgeleiteter Wunsch, der mein Herz in der Brust hämmern ließ. Ich kam nicht umhin, mich von diesem zusammenhangslosen Gefühl überwältigen zu lassen, dass er mich wohl nie so ansehen könnte wie ich ihn ansah.

Sollte ich die erste sein, die etwas sagt?

Das Flugzeug ruckelte und sank ein kleines Stück ab, bevor es dann wieder nach oben flog. Erschrocken krallte ich mich in die Armlehne und flüsterte ensetzt: „Jetzt stürzen wir ab, oder? Jetzt sterben wir.“ „Casey, nein, das ist nicht weiter schlimm, das ist ein Luftloch gewesen“, seine Stimme war beruhigender als alle Baldriantabletten der Welt. Aber was er da von sich gab, war absoluter Schwachsinn. „Ein Luftloch? Das glaubst du doch wohl selbst nicht, es kann doch kein Loch in der Luft sein. Ich bitte dich.“

Mild lächelte er und erklärte: „Ein sogenanntes Luftloch ist ein Phänomen, das auftritt, wenn das Flugzeug, das am Rande des Strahlstroms fliegt, in einen Abwind gerät. Was häufig vorkommen kann, besonder, über dem Pazifik und Südostasien. Und rate mal, wo wir gerade fliegen.“ Die Art, wie seine Augen zu leuchten begannen, während er mir das erklärte, und seine Hände versuchten, seine Worte anschaulicher zu machen, war so untypisch für einen Jungen seines Alters, dennoch so schön.

„Also kein Absturz?“, vergewisserte ich mich. „Nein, wir werden nicht abstürzen“, grinste er. Erleichtert atmete ich auf, sank zurück in meinen Sitz und lockerte meinen verkrampften Griff um die Lehne. „Woher weißt du solche Dinge?“, wollte ich wissen, jetzt wo ich wieder unbefangen und unverkrampft sprechen konnte. „Nun, ich bin in meinem Leben schon so oft nach Australien geflogen und eines Tages habe ich beschlossen, mich über solche Dinge zu informieren.“

„Wie hältst du das denn aus? So oft Fliegen? Ich hasse Flugzeuge.“ Er sah auf. Als hätte ich soeben einen grundlegenden, brachialen Fahler begangen, den man so einfach nicht wieder ausbügeln konnte, als würde sich die Welt jetzt nie wieder drehen, kaum hatte ich es ausgesprochen. „Wirklich? Ich liebe Flugzeuge.“ Kopfschütteln. Das konnte ich nicht glauben. Welcher gestörte, geisteskranke Mensch könnte das hier lieben? „Wieso denn das?“

Seine Antwort kam schnell und präzise formuliert und gab mir zu Denken. „Es gefällt mir, dass man sich weder hier noch dort befindet. Man ist weder Zuhause noch an dem Ziel. Man ist irgendwo dazwischen, aber es ist kein spezifischer Ort. Verstehst du? Das gefällt mir.“ ich verstand. Und jetzt, wo ich ein wenig darüber nachdachte, fand ich auch Gefallen an dem Gedanken. Weder hier noch dort zu sein. Als gehöre man weder hier noch dort hin. „Das war eine gute Antwort“, meinte ich leise und er lächelte bescheiden. „Ich hatte auch viel Zeit nachzudenken.“

Darum beneidete ich ihn fast, ich spürte dieses wehmütige Ziehen in meiner Brust. An Zeit zum Nachdenken fehlte es mir meistens, ich war jede Sekunde des Tages beschäftigt. Als ich das sagte, zögerlich und ein bisschen nervös vielleicht, behauptete er, dass ich aber ihm wie ein nachdenklicher Mensch vorkäme. Dass ich wohl den ganzen Tag nachdachte, so in Gedanken versunken wie ich immer wirkte. Dass er noch nie ein Mädchen gesehen hat, dass so oft die Augen zusammenkneift und angestrengt nachdenkt, als wäre es eine Sportart. Und ich fragte mich, wie intensiv er mich wohl beobachtete haben musste, um all das herauszufinden.

„Weißt du, es beschäftigt mich, was du eben gesagt hast, dass wir weder an dem einen noch an dem anderen Ort sind.“ Ich machte eine lange, bedeutende Sprechpause, um ihm Zeit für eine Antwort zu lassen, doch er schien mir den Vortritt zu lassen und nickte aufmunternd. „Was passiert, wenn man an dem anderen Ort nicht sein möchte?“

„Das ist schwierig“, gab er zu, „Aber nicht unlösbar. Zum einen besteht die Möglichkeit wieder zu fliegen. Dumme Idee, zeit- und kostspielig und außerdem nicht sonderlich konventionell. Zum anderen könnte man versuchen, das beste aus einer unangenehmen Situation zu machen. Wie in deinem Fall das Treffen mit Evie und John.“

#„Und Dad“, fügte ich hinzu, „am meisten Angst habe ich vor dem Wiedersehen mit Dad. Er wird sich verändert haben. Vielleicht ist er jetzt ein langweiliger, in Geld schwimmender Bankenmanager geworden, ich wüsste es nicht. Er hat sich so lange nicht mehr bei mir gemeldet.“

Zayn musterte mich bedrückt: „Das tut mir leid, Casey. Ich wette, er hat sich kaum geändert. Und er wird sich die größte Mühe geben, alles perfekt für dich zu machen.“

Würde er das? Der Dad, den ich kannte, mit Sicherheit. Aber was war mit dem neuen Dad, dem, der eine neue Frau und ein neues Kind und ein neues Haus hatte? Der Dad, der mich seit Jahren nur an Weihnachten und meinem Geburtstag anrief und jeglichen Kontakt so gering wie möglich zu halten versuchte?

Würde er mich immer noch Cas nennen und sich wundern, woher ich wohl die dunklen Haare hatte, wo doch er und Mum beide helles Haar hatten, würde er immer noch mit mir Pläne schmieden, wohin wir einmal gemeinsam reisen könnten?

Mit fast hundertprozentiger Wahrscheinlickeit nicht.

Er würde sich rührend um das kleine Baby kümmern, abends auf der Terasse Wein mit Evie trinken und mir an Weihnachten ein kleines Paket überreichen. Für das Paket müsste er nicht einmal Porto zahlen, da ich ja bereits in Australien war. Mein Aufenthalt war also rein zweckmäßig. Casey, die billige Babysittern, die verlorene Tochter, über die keiner mehr spricht.

23 Stunden - {zayn malik a.u.}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt