Teil 20

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Rose


Als ich gestern Abend mit meiner Mutter telefoniert habe, hätte ich beinahe geweint. Es war so schön gewesen ihre Stimme zu hören. Sie hatte mir all möglichen Tratsch erzählt, so dass ich wieder auf dem laufenden war. Es hatte mich von meinen eigentlichen Gedanken abgelenkt. An Weihnachten würde ich nach Hause fahren und ich begann jetzt schon die Tage zu zählen. Der November neigte sich dem Ende zu und es wurde immer kälter. Seit gestern war die gesamte Stadt von einer weißen Schneedecke überzogen. Ausnahmsweise war ich froh, dass uns Lexi's Freund mit dem Auto abholte und zur Uni fuhr. Milan war still, während Lexi ununterbrochen sprach. Ihn schien das nicht im geringsten zu nerven was bewundernswert war, da die meisten Kerle keine Mädchen mochten, die viel erzählten. Ich konnte nicht richtig zuhören, da ich mit den Gedanken ganz wo anders war. In mein Kopf herrschte ein vollkommenes Chaos und ich konnte es einfach nicht ordnen. Da waren so viel Dinge, die mich beschäftigten. Zum einen die Sache mit Enzo im Allgemeinen und zum anderen der Vorfall am Freitagabend.

Als Milan am Parkplatz halt machte, stiegen wir aus. Heute war einer dieser Tage, die einfach von Anfang an nicht gut lief. Es musste nichtmal was tragisches passieren, der Tag war einfach mies. Als wir die Uni betraten, waren meine Haare bereits von dem Schnee durchfeuchtet. Ich lief die Treppen zu meinem Mathekurs hoch und war froh, dass ich es gerade noch in den Unterricht schaffte. Unser Professor war zwar noch nicht da, doch ich hasste es einfach so in den Kurs zu platzen. Sofort stach mir Karlo ins Auge. Er stand vorne am Pult und schien auf den Professor zu warten. Kurz musterte er mich von Kopf bis Fuß, ehe er mir lächelnd zuzwinkerte. Ich hätte mich übergeben können und als mir tatsächlich mulmig im Magen wurde, befürchtete ich, dass meine Gedanken Realität wurden. Enzo war noch nicht da und der Platz neben mir sah so leer aus. Ich meine klar war er leer, aber ohne ihn war er so wirklich leer. Ich holte meinen Block raus und begann gedankenlos in meinem Block rum zu kritzeln. Hauptsache ich sah nicht auf, denn entweder würde ich Karlo oder Enzo erblicken. Ich wusste nicht was schlimmer war.

In der nächsten Sekunde war es nicht mehr leer neben mir. Automatisch hielt ich die Luft an und hielt mir meine Hand an mein rasendes Herz. Als er mich gestern in der Kälte nach Hause gefahren hatte, schwirrten so viele Fragen und Aussagen in meinem Kopf herum, doch ich brachte kein Wort heraus. Ich vermied ihn und ich vermied Alex. Mit beiden hatte ich seit letzten Freitag kein Wort gesprochen. Bei Alex fiel es mir noch lange nicht so schwer wie bei Enzo. Ich traute mich noch immer nicht den Blick von meinem Papier abzuwenden. Erst als der Professor den Raum betrat, schielte ich leicht nach oben, nur nicht zur Seite. Er begrüßte den Kurs, doch keiner von uns erwiderte irgendwas. Mathe in den ersten Stunden zu haben war schrecklich. Er schaltete den Laptop an, doch irgendwie schien es Probleme zu geben. Mit zusammengezogenen Augenbrauen betrachtete der Professor den Bildschirm und hämmerte wie wild auf die Tasten ein. Ein leichtes Kichern machte die Runde und auch meine Mundwinkel zogen sich nach oben. Dann übertrug der Laptop den Bildschirm auf die große Leinwand im Saal. Alle Blicke waren drauf gerichtet und augenblicklich erstarb mein Lächeln. Ich erhob mich und blinzelte mehrmals um sicherzugehen, dass ich nicht träumte. Mein Kopf drehte sich und alles was ich noch wahrnahm war das Lachen meiner Kommilitonen und meine Stimme, die sang. Ich betrachtete mein Gesicht, dass auf die große Leinwand übertragen worden war. Der Professor versuchte noch immer verzweifelt das Video zu schließen, doch es war zu spät. Jeder hatte es gesehen, jeder hatte mich gesehen. Als ich dachte es könnte nicht schlimmer werden, wurde es schlimmer. Ein gleichmäßiges Piepen ertönte im Raum und alle griffen nach ihrem Handy, so auch ich. Eine Anonyme Nummer hatte das Video per SMS an mich gesendet. Die Nummer hatte es an alle gesendet. Ich fühlte mich wie in einem schlechten Hollywoodfilm, doch das war mein echtes, verfluchtes Leben. Mein gesamter Körper zitterte und endlich hatte der Professor den Stecker rausgezogen, doch das spielte keine Rolle mehr.

CarelessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt