6.Kapitel. Fremd.

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Irgendwann hielt Amera an und ließ uns endlich zu Atem kommen. Im Laufen waren meine Tränen versiegt, doch jetzt bahnten sie sich wieder ihren Weg nach draußen. Warum hatte ich nicht auf Aman gehört und meine Schwestern eher geweckt? Warum musste ich ihn unbedingt ausfragen? Toll, jetzt wusste ich seinen Namen, von dem ich nicht einmal wusste, ob es sein richtiger Name war, doch für welchen Preis? Ich war schuld daran, dass Amandla nun den Jägern zum Opfer gefallen war. Wieso musste ich nur so stur sein? Ich hätte mich nur umsehen müssen und ich hätte die Scheinwerfer gesehen aber nein, ich musste ja so dumm sein und den Fremden ausfragen. Ich könnte schreien, wenn ein Laut meine Kehle verlassen würde. Der Kloß in meinem Hals schnürt mir beinahe die Luft zum Atmen ab. Amera trat neben mich und sah mich kalt an.

"Kommst du? Wir müssen weiter. Hier in der offenen Graslandschaft werden sie uns leicht finden."

Wie konnte sie nur? Wie konnte sie nur so gefühlskalt sein? Schließlich war vor einigen Stunden ihre Schwester vor ihren Augen gestorben. Doch statt zu trauern, trieb sie mich immer weiter und wollte nicht lange irgendwo eine Pause machen. Wütend sah ich sie an.

"Was ist bloß los mit dir? Deine Schwester ist gerade gestorben und du tust beinah so als würde es dich nichts angehen. Hat sie dir denn gar nichts bedeutet?", schrie ich ihr ins Gesicht und sah in ihren Augen, welche Emotionen sie gerade hatte. Wut, Verzweiflung und Trauer konnte ich erkennen, bis schließlich die Wut alles andere überdeckte.

"Natürlich hat sie mir etwas bedeutet, schließlich sind wir zusammen aufgewachsen und blutsverwandt. Wie kannst du das anzweifeln? Ich trauere nicht, weil eine von uns schließlich einen kühlen Kopf bewahren muss.", fauchte sie mich an.

"Ob du nun mitkommst, um ein Versteck zu finden oder ob du dich erschießen lassen willst, ist dir überlassen. Ich habe jedoch keine Lust dasselbe Schicksal zu erleiden, wie Amandla. Ich will überleben.", fügte sie noch hinzu und drehte sich um und lief weiter. Ich schluckte meinen Ärger hinunter und folgte ihr. Die Tränen liefen dennoch weiter an meinen Wangen hinunter.

Wir liefen noch die nächsten zwei Tage weiter und Amera ließ uns nur Pausen machen, wenn der Hunger übermächtig wurde und wir etwas essen mussten, um am Leben zu bleiben. Sie führte uns stur Richtung Norden. Wir waren immernoch in den Gebieten der Feuchtsavanne. Nach einer Weile bemerkte ich einen Geruch. Es roch nach einem Rudel, das hier in der Nähe sein Revier hatte und meine Schwester hielt stumm auf das Revier zu.

"Amera ich hoffe du weisst, was du tust. Im schlimmsten Fall töten die uns.", warnte ich sie und beobachtete ihre Bewegungen. Sie versteifte sich und drehte sich genervt zu mir um.

"Ich hoffe du weisst, dass wir ohne ein Rudel nicht überleben können.", äffte die meinen Ton nach und fügte noch hinzu:
"Ich weiß, was ich tue und du brauchst mich nicht darauf hinzuweisen, dass wir uns in der Nähe eines fremden Rudels befinden. Ich weiß selbst, was sie mit uns machen könnten. Sieh zu, dass wenn sie auf uns treffen, dass du das Reden möglichst mir überlässt." Ich konnte nicht anders als sie anzustarren. Ging es ihr noch ganz gut? Mich zum Schweigen zu zwingen? Das hatte sie doch sonst nie getan. Ich knurrte leise und trottete langsam hinter ihr her. Meine Beine schmerzten und wurden immer schwerer, als Amera uns weiter führte und wir schließlich die Grenze zum fremden Löwenrudel überschritten. Sie sah sich ganz genau um und beschloss noch einer Weile, dass wir hier an einem kleinen Bach eine etwas längere Rast einlegen konnten.

Ich stürzte mich auf das Wasser und trank so viel ich konnte. Es war kühl und belebte mich etwas. Gespannt beobachtete ich die Umgebung und achtete auf jedes noch so kleine Detail. Wie das gelegentliche Glitzern des Mondes auf dem Wasser, wenn die Wolken die Sicht auf ihn wieder freigaben. Das Rauschen des Windes in den wenigen Bäumen die hier standen. Die Reflektion eines Augenpaares ... Moment ... Ich sah noch einmal auf diese Stelle und dort konnte ich wirklich ein Augenpaar erkennen. Es waren unverkennbare Löwenaugen, die mich und meine Schwester da anstarrten. Der Wind kam von Osten und er konnte unseren Geruch mit Leichtigkeit wahrnehmen. Nach einer Weile wandten sich die Augen ab und das Rascheln im Gras verriet, dass unser Beobachter nun weiter Richtung Norden gewandert sei.

Ich schlich mich zu Amera und fragte leise:

"Hast du das auch eben gemerkt? Wir wurden beobachtet."

Meine Schwester sah mich genervt an.

"Natürlich werden wir beobachtet. Wir befinden uns in einem fremden Territorium. Sie werden uns sicher noch eine Weile lang beobachten, bevor sie sich dazu entschließen uns anzusprechen.", motzte sie mich an und legte sich unter einen Baum. Ich schluckte meinen Zorn hinunter und legte mich in ihre Nähe. Meine Beine schmerzten tierisch und es dauerte eine Weile bis ich schlafen konnte.

Früh am Morgen weckte mich Amera und sah mich scheu an.

"Steh auf! Sie kommen.", meinte sie und ich wurde nervös und stand auf. Sie deutete mit einem Kopfnicken Richtung Norden, auf die andere Seite des Baches. Dort waren sie tatsächlich, doch das konnte ich nur am Geruch feststellen. Sie hatten ihre Menschengestalt angenommen und Speere und viele andere Waffen dabei. Scheinbar bereiteten sie sich auf einen Konflikt vor. Sie versammelten sich am Ufer des Baches und starrten uns an, bis ein Mann hervortrat und anfing zu sprechen.

"Wer seid ihr und wieso seid ihr hier?" Seine Stimme war hart und unnachgiebig. Sie duldete keine Lügen oder Geheimnisse. Kaum merklich trat Amera vor. Er war unverkennbar der alleinige Herrscher über dieses Territorium und das strahlte er auch aus.

"Ich bin Amera. Das ist meine Schwester Niara und wir wollen uns eurem Rudel anschließen und Schutz und Zuflucht erbitten. Wir haben eine weite Reise hinter uns."

Kaum hatte sie das gesagt, nickte der Mann und eine Frau kam auf uns zu, blieb direkt vor uns stehen, dann griff sie in ihre Tasche und holte Kleidungsstücke heraus. Gebannt beobachtete ich sie.

"Verwandelt euch und zieht euch etwas an. Wir leben meist in Menschengestalt und es ist Sitte, dass euch das Rudel erst kennenlernt bevor es euch wirklich aufnimmt.", sagte sie und legte die Kleidung vor uns hin. Ich war sehr nervös, doch irgendwie beruhigte mich ihre ruhige Art.

"Wir werden uns gleich umdrehen und zurück zum Dorf laufen.
Wenn ihr euch angezogen habt, folgt ihr uns."

"Danke.", sagte Amera und ich nickte der noch jungen Löwin entgegen, dann drehte diese sich um und ging zu ihrem Rudel davon. Als sie dort ankam, drehten sie sich alle um und gingen langsam Richtung Norden davon. Amera wandte sich an mich.

"Na das lief doch erstaunlich gut.", meinte sie heiter und verwandelte sich in einen Menschen. Während sie sich noch anzog, tat ich mich mit dem Verwandeln schwer. Es war fast ein halbes Jahr her, seit ich zum letzten Mal meine Menschengestalt angenommen hatte.

Nach ein paar Versuchen klappte es dann doch und ich stellte mich auf meine etwas wackeligen Beine. Amera reichte mir das Kleid, das zu groß aussah und ich schlüpfte hinen. Es war tatsächlich um einiges zu groß. Die Ärmel hingen schlapp über meine Hände und der Ausschnitt war schon sehr grenzwertig. Beim Gehen musste ich es anheben, um nicht darüber zu stolpern. Amera trug eine Hose und ein weites Tshirt. Schön, dass sie wenigstens nicht beim gehen behindert wurde aber leider bedeutete das auch, dass sie weit vorraus lief und drängelte, während ich mit meinem Kleid ständig an irgendwelchen Gräsern hängen blieb. Genervt rollte ich mit den Augen und bemühte mich mitzuhalten.

Löwen - Das Geheimnis der SavanneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt