Kapitel 29 - Wächter gegen Kampflehrer

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Langsam schlenderte ich den Flur hinunter und grübelte über das Gesagte der Direktorin nach. Essentia nannte man also das Anwenden purer Elementarenergie. Doch so wie es die Direktorin geschwächt hatte, war ich nicht wirklich versucht, es auszuprobieren. Und immer wieder blieb ich an Raven Dragoni hängen. Er war der einzige, der neben der Direktorin stark genug war, um solch mächtige Magie auszuüben, aber es ergab einfach keinen Sinn. Der Grund fehlte. Das Motiv. Zudem war allein der Gedanke, dieser Mann könnte sich auf dem Campus aufhalten, äußerst beunruhigend. Immerhin hatte er meinen Vater auf dem Gewissen und hunderte mehr. Und er experimentierte mit Gorgonenblut. Ich schüttelte mich vor Abscheu. Wo zur Hölle hatte er das Zeug überhaupt her, wenn man den fragwürdigen Erkenntnissen Glauben schenken durfte? Besaß er vielleicht einen grausigen Zoo voller Monster? Wieder schüttelte es mich und ich verbannte diese unschönen Bilder aus meinem Kopf. Schon allein bei der Vorstellung verspürte ich eine gewisse Übelkeit, die sich nur schwer wieder vertreiben ließ.

Ich sah mich gezwungen über eine neue Möglichkeit an Informationen zu gelangen, nachzusinnen. Das Problem an der Sache war nur, dass ich nicht im Geringsten wusste, wo ich suchen sollte. Nach allem, was heute passiert war, hatte ich das Gefühl, der Tag ginge schon deutlich länger als gute fünfzehn Stunden. Wenn das mal kein schlechtes Omen war. Ich meine, so viel Unglück und das am Anfang des Jahres. Keine rosigen Aussichten. Eigentlich konnte es ja nur besser werden. Drei Minuten später revidierte ich die Aussage in Gedanken wieder, als von draußen Lärm hereindrang. Ich stürzte zum nächstbesten Fenster und ließ meinen Blick über das Gelände wandern.

„Nein", stöhnte ich entsetzt und verzog das Gesicht. Mitten auf der schneebedeckten Wiese standen Derek und James sich wütend gegenüber. Beide waren bewaffnet und ihre Körperhaltung strahlte deutliche Kampfbereitschaft aus. Das war ja zum aus der Haut fahren. Jemand musste die beiden davon abhalten, sich aufeinander zu stürzen, bevor sie sich gegenseitig umbrachten! Schon rannte ich los und sprintete die Treppe hinunter, doch als ich draußen ankam, war es bereits zu spät. Mit tödlicher Eleganz tanzten die Männer umeinander herum, ihre Schwerter zischten wie silberne Blitze durch die Luft und trafen klirrend zwischen ihnen zusammen.

Atemlos gesellte ich mich zu den anderen Schülern, die mit gemischten Gefühlen dem Kampf beiwohnten. Niemand schien es zu wagen, sich einzumischen und auch ich verspürte keine Lust, mich zwischen die Klingen zu werfen.
Frierend schlang ich meine Arme um mich, denn seit ich von Mara aus der Bibliothek gezerrt worden war, hatte ich keine Jacke mehr zur Hand gehabt. Immerhin trug ich einen relativ warmen Pullover, der den größten Teil der Kälte davon abhielt, sich mit tausend eisigen Nadeln in meine Haut zu bohren.

Wieder zerschnitt ein Klirren die winterliche Luft und ich sah, wie James seine Klinge mit einer unglaublichen Geschwindigkeit herumwirbeln ließ. Er hatte nicht übertrieben, als er mir erzählt hatte, dass Wächter zu den besten Kämpfern gehörten, die man sich vorstellen konnte. Doch auch Derek war nicht umsonst Kampflehrer mit AFE-Ausbildung und teilte seinerseits blitzschnelle Schläge aus. Bis jetzt erinnerte das Ganze eher an einen gefährlichen Tanz, das änderte sich jedoch schlagartig, als James einen Angriff vortäuschte, sich dann jedoch duckte, einen Satz nach vorne machte und Derek mit seinem Gewicht zu Boden stieß. Beide krachten in den Schnee und der Wächter rollte sich geschickt ab, bevor er wieder wachsam auf die Füße kam. Er machte nicht den Eindruck, als sei er in irgendeiner Art und Weise angestrengt. Ohne innezuhalten machte er einen großen Schritt auf den am Boden liegenden Kampflehrer zu und drückte ihm mit Wut in den Augen das Schwert an die Kehle.

Mir stockte der Atem. Er würde doch nicht ...? Nein! Ich schalt mich. James würde Derek nicht umbringen. So zornig er auch sein mochte. Die Schüler um mich herum atmeten teilweise erleichtert auf. James hatte gesiegt und Derek würde sich ergeben. Einige wandten sich schon zum Gehen, als der Kampflehrer sich unter der Schwertspitze des Wächters wegrollte und das Metall einen roten Striemen auf seiner Haut hinterließ. Der Lehrer starrte den Wächter voller Hass an und ich schauderte. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Knurrend hob er die Hände und sofort spürte ich das Kribbeln von Magie.

Jetzt wurde mir klar, dass dieser Kampf alles andere als fair war. James mochte der bessere Schwertkämpfer sein, aber Derek besaß Magie und das machte ihn gefährlicher.
„Verdammt", hauchte ich und wünschte, jemand würde etwas unternehmen. Wo waren denn die AFE-Agenten, die hier für Sicherheit sorgen sollten, wenn man sie brauchte?
Wind kam auf und steigerte sich in Sekundenschnelle zu einem eisigen Sturm. Schneekristalle wirbelten auf und stachen mir ins Gesicht. Schützend hielt ich meine Arme vors Gesicht und drehte mich zur Seite. Heulend formte der Schneesturm sich zu einem Wirbel aus Eis, der die beiden Kämpfenden einschloss. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich war vor Schreck wie erstarrt. Nie im Leben hatte ich geahnt, welche Kräfte in Derek steckten. Außer das Tosen des Sturmes hörte ich nichts und hoffte inständig, dass keiner der beiden ernsthaft verletzt wurde.
„Was zur Hölle ist hier los?", drang Direktorin Freys Stimme zu mir durch und ich spähte mit zusammengekniffenen Augen in ihre Richtung. Sie war in ihren roten Wintermantel gehüllt und ließ sich von jemandem aufklären. Mit jeder Sekunde verdüsterte sich ihre Miene. Dann lief sie geradewegs in den Eiswirbel hinein und ich vergaß zu atmen. Kurze Zeit später fiel der Sturm in sich zusammen und Eis- und Schneekristalle fielen zu Boden. Es herrschte Totenstille, doch in meinen Ohren rauschte es noch immer.

Mit in die Seite gestemmten Händen ragte Direktorin Frey vor Derek und James auf, die beide
Kratzer im Gesicht hatten und sich noch immer wütend anfunkelten, wie zwei Kater, die um ein Revier kämpften.
Die Direktorin war gerade in Begriff etwas zu sagen, als der Wächter unterdrückt aufstöhnte und mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Knie sank.
Oh nein. Derek musste ihn doch erwischt haben! Ich versuchte herauszufinden, um was für eine Art Verletzung es sich handelte, konnte aber nichts erkennen, da James seine Hand in die Seite presste.

„Derek, ich will Sie nachher in meinem Büro sprechen!", befahl die Direktorin kühl und gab dem verärgerten Kampflehrer mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er verschwinden sollte.
„Die Vorstellung ist zu Ende!", blaffte sie uns schließlich auch an und jeder in meiner Nähe machte, dass er wegkam. Außer mir natürlich. Ich eilte genau in die andere Richtung und sie duldete es schweigend, dass ich ihr half, James auf die Beine zu bekommen. In ihren Augen kämpften Sorge und Ärger miteinander, doch im Allgemeinen wirkte sie einfach nur zu Tode erschöpft.

Der Wächter ächzte gequält, hielt sich aber aufrecht. Seine Haut war fahl und aus einigen der tieferen Schnitte quoll Blut.
Schweigend brachten wir ihn in den Krankenflügel, wo einer der Ärzte sich gleich seiner annahm, während die Direktorin sich ausgelaugt gegen die Wand lehnte und für einen kurzen Moment die Augen schloss.

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