Das verdammte Mädchen

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Ich trat in mein neues Zimmer, es war der Hammer. Kopfschüttelnd schnappte ich mir die Waisenhaustasche und kramte meinen Schlafanzug heraus. Dann ging ich ins Bad. Das Bad war so modern wie der Rest des Hauses. In ihm war eine Dusche, ein Wachbecken, eine Toilette(Wer hätte das erwartet?) und ein kleine Whirlpool-Badewanne. Ich seufzte, für so viel Glück musste man immer etwas zahlen. Ich konnte nur hoffen dass ich nicht allzu viel zahlen musste. Langsam machte ich mich Bett fertig, ich wollte nicht schlafen gehen und dem Mädchen begegnen.

Als ich jedoch fertig war, verließ ich das Bad, zog die Fenstervorhänge zu und schmiss mich in mein neues Bett. Es war extrem gemütlich und eindeutig groß genug für zwei. Dann klopfte es an der Tür. Bitte nicht das Mädchen. „Ja?", sagte ich zögernd. Zu meiner Erleichterung trat Anne herein und fragte: „Alles in Ordnung?" „Ja, alles gut. Ich bin es nur nicht gewöhnt so viel Platz für mich zu haben.", gab ich zu. Anne lächelte: „Wenn etwas los ist oder du dich nicht wohl fühlst wir sind direkt neben an." „Danke.", meinte ich. „Du braust nur zu rufen.", verschärfte sie ihre Aussage. Ich nickte. „Dann schlaf schön." „Gute Nacht.", wünschte ich ihr, „Auch Leon." Sie nickte und verschwand dann.

Die erste Nacht ist immer sie schlimmste. Die Geräusche um einen herum waren befremdlich und unheimlich. Das noch ungewohnte Zimmer füllte sich in der Dunkelheit mit seltsamen Hirngespinsten. Dazu dachte ich pausenlos an das Mädchen. Würde sie wieder einmal auftauchen? Hatte ich es mir doch nur eingebildet? Würde sie mich mitnehmen ohne dass ich es mitbekam? Diese Gedanken quälten mich und trotzdem fielen mir bald die Augen zu.

Eine Hand berührte meine Schulter und ich schreckte aus dem Schlaf auf. Verwirrt blickte ich mich um bis ich mich erinnerte, dass ich ja in meinem neuen Zimmer lag, bei meiner neuern Familie.

Aber halt! Wem gehörte die Hand? Mein Blick wanderte zu meiner linken und da stand es, dieses verdammte Mädchen. „Kannst du nicht einmal nicht auftauchen?", fragte ich deprimiert. In der Finsternis erkannte ich nicht viel. Es war ein ganz normales Mädchen, hatte langes Haar, war einen Kopf kleiner als ich und ich vermutete, dass sie sah mich an. „Ich muss auf dich Acht geben.", erklärte das Mädchen mir. „Danke, ich komm auch so klar.", meinte ich.

Sie schüttelte den Kopf: „Du verstehst das nicht." „Dann erklär es mir.", forderte ich sie auf. Schon wieder schüttelte sie den Kopf: „Das kann ich nicht." Ich seufzte und meinte dann: „Sag mir, ob du Real bist." Das Mädchen lacht. Ich zuckte zusammen, war das jetzt der Teil in dem sie mich wie in Horrorfilmen umbrächte? Aber sie antwortete einfach nur: „Nein, du bist nicht verrückt. Ich bin echt, auch wenn du dir das selbst fast nicht mehr glaubst." Viel gebracht hatte mir die Antwort nicht, weil ich mir gut vorstellen konnte dass sich das jeder Verrückt einredete.

„Willst du mich wieder mitnehmen?", fragte ich um das Thema zu wechseln. „Nein." „Ich meine ich hab es-.Warte was?", fragte ich überrascht, „Wieso denn der Sinneswandel?" „Du wirst älter. Im Waisenheim warst du unter den anderen Kindern sicher, aber jetzt bist du hier auf dem Land weit weg von allem sicherer.", erklärte das Mädchen. „Das heißt du wolltest mich im Heim halten?", wollte ich aufgebracht wissen. „Das habe nicht ich entschieden das waren sie.", verteidigte sich das Mädchen. „Wer sind sie?", forschte ich nach. Das Mädchen schüttelte den Kopf, was mich langsam nervte: „Ich hab schon genug gesagt. Du musst nur eins wissen, hier bist du sicher."

„Nein.", entschied ich. Ich wollte Antworten und zwar jetzt. Dieses verdammte Mädchen hatte mir sieben Mal die Möglichkeit auf ein normales Leben in einer richtigen Familie genommen. Dazu war ich nur wegen ihr für alle der verrückte, wahnsinnige Junge. Sie musste mir einfach alles erklären. Wieder schüttelte es den Kopf und ging dann zu meinem Fenster.

„Hey!", rief ich wütend, so leicht würde sie nicht davonkommen. Das Mädchen drehte sich um und blickte in meine Richtung. Ich sprang aus meinem Bett auf. In meiner Brust wirbelte die Wut, die sich in mir seit unserer letzten Begegnung gesammelt hatte und nun schlagartig freigesetzt wurde.

„Wie kannst du es wagen über mein Leben zu bestimmen.", fuhr ich sie mit lauter Stimme an. „Sie, nicht ich.", sagte sie mit leiser Stimme. „Und wieso machst du das für sie?", fragte ich zornig. Schon wieder schüttelte sie nur den Kopf. „Ich gehe jetzt.", teilte das Mädchen mir dann leise, aber bestimmt mit. Dann ging sie zum jetzt offenen Fenster und sprang. „Nein.", schrie ich und rannte zum Fenster. Nur um fest zustellen, dass dort nichts war.

Hatte ich mir doch nur alles eingebildet? War ich vielleicht doch verrückt? Warum passierte das mir? Was sollte das? Aber wenn ich mir das alles eingebildet hatte, wer waren dann die Leute von denen es gesprochen hatte? Starr stand ich am Fenster, erschlagen von meinen Gedanken und dem verzweifelten Versuch Antworten auf meine Fragen zu finden.

„Ed?", fragte Leons Stimme besorgt hinter mir. Überrascht drehte ich mich um. In meinem Zimmer standen Leon, Anne und Walter, der gerade ebenfalls mein Zimmer betrat. „Das Mädchen war da.", entfiel es mir wütend, „Es ist einfach gekommen und geht ohne meine Fragen zu beantworten." Der Zorn im meinen Wort erstaunte selbst mich. Ich sah den drei an, wie erschrocken sie waren. Erst da merkte ich, wie das hier für sie wirken müsste.

Ich würde wieder ins Heim kommen. Und ich hatte mich schon über mein Glück gefreut. Ha, wie lächerlich das doch war. Ich würde niemals eine Familie haben. Meine Wut und mein Zorn wich nun um für Trauer und Angst Platz zu machen. Tränen bildeten sich in meinen Augen und ich sank verzweifelt zu Boden. Ich legte mein Gesicht in meine Hände und fing an hemmungslos zu weinen.

Zögernd legte sich eine zierliche Hand auf meine Schulter. „Das wird schon.", versuchte Anne mich zu beruhigen. Ich blickte auf und erkannte verschwommen, dass sie vor mir kniete und mich mitleidig ansah. „ Ihr werdet mich weg schicken. Niemals werde ich eine Familie finden.", meinte ich mit zitternder Stimme. Sie nahm mich in den Arm, was mich sehr überraschte, da dies schon so lange niemand mehr getan hatte. Ich meine nicht eine kurze, teilnahmslose Umarmung, sondern eine liebevolle, geborgene Umarmung.

Es tat gut, es tat einfach nur gut. Ich weinte immer noch, aber ich fühlte mich besser, beschützt, vielleicht sogar geliebt, wobei dies ein starkes Wort ist, das man nicht leichtfertig benutzt. Irgendwann war ich anscheinend so erschöpft von allem, dass ich in Annes Armen einschlief. Erst spät am nächsten Morgen wurde ich wieder wach.

Engels Chroniken ~ David ~Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt