Seid ihr jemals in so einer Situation gewesen, dass ihr euch fragt: Wie zur Hölle konnte es nur so weit kommen? Ich, zum Beispiel, bin gerade in so einer Situation. Ich sitze im Auto auf dem Weg ins Nirgendwo und weiß genau, dass das hier kein „Neuanfang mit neuen Möglichkeiten" wird und auch keine „glückliche Wendung des Schicksals". Das alles hier ist von allen Katastrophen und Unglücksfällen das schlimmste, was mir in meinem Leben passieren kann. Und das alles verdanke ich niemand geringerem als meiner hochgeschätzten Familie.
Ja, okay. Vielleicht trage ich etwas zu dick auf, aber besonders rosig sieht meine Situation auch wieder nicht aus. Zusammengepfercht auf der Rückbank eines Touran mit zwei nervigen kleinen Brüdern neben sich, die sich seit gefühlten Ewigkeiten um den letzten Schokoriegel streiten. Meine Eltern scheinen die lautstarke Diskussion mit Absicht sich selbst zu überlassen und starren nur wortlos aus der Windschutzscheibe. Ich versuche erneut die Musik meines Handys noch ein Stück lauter zu drehen, aber das Limit habe ich bereits erreicht. Verdammt!
Mit einer schnellen Bewegung fische ich den verfluchten Riegel aus dem Korb, der zwischen den beiden steht und nehme ihn an mich. Sofort ertönt lauter Protest.
„Hey!", rufen Luis und Leon wie aus einem Mund. Ich strecke den beiden die Zunge raus und vernichte die Schokolade so schnell wie möglich. Hinter den lauten Bässen eines Rapsongs höre ich, wie sich die Giftzwerge bei Mama beschweren. Aber ich lasse mich davon nicht stören und schaue aus dem Fenster auf die vorüberziehende Landschaft, in der Hoffnung einen Blick auf sowas wie Zivilisation zu erhaschen.
Um diese gesamte Sache zu verstehen, muss man die ganze Geschichte kennen. Mein Vater arbeitet im Marketingbereich einer Versicherungsfirma und jetzt hat er beschlossen seinen Job von Zuhause aus weiter zu führen. An sich kein Problem, aber gleichzeitig hat meine Mutter beschlossen, zu einem anderen Sender zu wechseln, um dort die Leute mit ihren Fußballberichten glücklich zu machen. Und über den Kopf ihrer Kinder hinweg haben sie beschlossen in einen beschaulichen Ort aufs Land zu ziehen. Nah genug an Mamas Job, aber möglichst weit weg von allen Vorzügen der menschlichen Gesellschaft. Einkaufszentren, Cafés oder Handyempfang zum Beispiel. Denn ein kleiner Blick in die Ecke meines Bildschirms verrät mir, dass hier nicht einmal mehr ein Notruf möglich wäre. Na klasse.
Aber zurück zum Thema: Meine Eltern haben uns erst in ihre Pläne eingeweiht als es eigentlichen schon zu spät war. Die Giftzwerge hat es an sich erst einmal nicht sonderlich gestört, mich und meine große Schwester aber hat es ganz schön mitgenommen. Wir haben ziemlich rebelliert und dann hat eine Entscheidung meiner Eltern mir den Rest gegeben: Margarethe, ihres Zeichens 18 Jahre alt zu diesem verhängnisvollem Zeitpunkt, durfte in der Stadt bei Freunden wohnen bleiben, da sie mitten in den Klausuren gesteckt hat und danach sowieso ausgezogen wäre. Während wir also unsere sieben Sachen zusammen gesucht haben und meine Eltern den Umzug bis ins kleinste Detail durchgeplant haben, hat Maggie lediglich ihr Hab und Gut von A nach B verschoben und musste nichts von dem aufgeben, was sie kannte. Nicht ihre Freunde, nicht ihre Schule, einfach nichts. Inzwischen ist Maggie auf der Suche nach einem Studienplatz an der örtlichen Uni und genießt ihr Leben in vollen Zügen.
Was hätte ich gegeben, um mit ihr zu tauschen, aber das war für meine Eltern ausgeschlossen. Genau passend zum neuen Schuljahr haben sie den Umzug in die neue Heimat geplant, dass ich direkt morgen mit der Schule anfangen kann. Was ein Glück...nicht! Denn wenn ich eins nicht leiden kann, dann ist es die Neue zu sein. Allein unter einem Haufen Jugendlicher, die krampfhaft versuchen nett zu mir zu sein und sich mit mir anzufreunden.
Inzwischen tauchen am Horizont einige Häuser auf. Mein Vater wirft einen unsicheren Blick auf sein Navi und ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. Mama dreht sich zu uns um und sieht zuversichtlich aus.
„Wir sind da, Kinder! Da drüben ist es schon. Das Haus wird euch gefallen, das verspreche ich euch." Ich setze meine Kopfhörer ab und verstaue sie samt Handy tief in meiner Umhängetasche. Die Verpackungsfolie des Schokoriegels glitzert in meiner Hand und ich zerknülle sie lautstark. Meine Mutter mustert mich besorgt.
„Schatz, es ist wunderschön dort, du wirst sehen." Ich schaue sie an und mein Blick verfinstert sich. Aber ich erwidere nichts darauf, denn gestritten haben wir uns in letzter Zeit genug. Eine Kurve später begrüßt uns erst das gelbe Ortsschild und direkt dahinter ein aufwendig geschnitztes aus Holz. Herzlich Willkommen in Rosswald prangt in großen weißen Lettern um das blaue Wappen auf dem zwei silberne Zweige und ein Hufeisen zu sehen sind. Herzlich willkommen am Arsch, denke ich, behalte es allerdings für mich. Der Ort ist überschaubar und auf der Straße ist kaum einer. Ich kann mir schon denken, dass das hier einer der Orte ist, wo der Großteil der Einwohner eher untertage wohnt.
Die Stimme des Navis schickt uns in einige Nebenstraßen und schließlich an den Rand der Ortschaft. Am Ende der Straße hält Papa an einem Haus aus roten Backsteinen, Solarpaneelen auf dem schwarzen Ziegeldach und vor der Haustür gesäumt von einer kleinen Buchsbaumhecke. Ma hat recht gehabt, das Haus an sich ist schon echt schön, aber dort wohnen? Niemals. Da ist mir unsere kleine Wohnung in der Stadt lieber gewesen, obwohl ich mir dort ein Zimmer mit Maggie habe teilen müssen. Aber die ist ja sowieso aus dem Rennen.
Papa hält auf der Straße und betrachtet das Haus, als wäre sein Kindheitstraum in Erfüllung gegangen.
„Ach, ist es nicht wunderbar?", seufzt er und steigt aus dem Auto. Ich bleibe sitzen und mustere das Gebäude. Dort werde ich also meinen langsamen und qualvollen Tod aus Langeweile erwarten. Ich zwänge meine Umhängetasche unter dem Sitz hervor und öffne die Autotür. Ein frischer Luftzug begrüßt mich und mir wird sofort kalt. Meine Jacke habe ich tief im Kofferraum vergraben, weil es Zuhause so warm gewesen ist. Aber jetzt bereue ich meine Entscheidung sofort. Hier scheinen die Temperaturen um ein Vielfaches gesunken zu sein und von dem warmen Sommer, der anderswo herrscht, keine Spur.
Ich zwinge mich aus dem Auto und reibe mir die Arme. Meine Eltern betrachten unseren zukünftigen Wohnsitz überaus verzückt, während die Jungs sofort das Gartentor entdeckt haben und sich mit einem Fußball unterm Arm hinter die Hecke auf die Grünfläche flüchten.
Ich dagegen stehe einfach nur dumm auf der Straße und schaue mich genauer um. Neben uns ist ein Maisfeld auf dem auch wieder Solarplatten stehen und fleißig Energie produzieren. Die Straße entlang stehen Häuser, ähnlich wie unsers und alle mit mindestens einer Blume davor. Ein Haus ist sogar knallgelb gestrichen und hat dazu eine rote Haustür mit passendem Garagentor, was ich sehr gewagt finde. Dann schaue ich hinter mich und sehe: Grün. Eine grüne Wiese, ein grüner Wald mit grünen Bäumen. Hinter einer kleinen Baumgruppe kann ich sogar einen Zaun erkennen, womit man Tiere einzäunt. Hier ist bestimmt noch das tiefste Bauerntum aktiv.
„Brooklyn, kommst du?" Meine Mutter schaut zu mir und klimpert mit einem kleinen silbernen Schlüssel. Ich folge ihr widerwillig und nehme mir auf dem Weg zu Haustür viel Zeit. Meine Mutter schließt die Tür auf und verschwindet mit meinem Vater. Ich bleibe stehen. Das gesamte Haus scheint mich zu verspotten, auch die Büsche am Wegesrand, die kleine Metallbank an der Hauswand und die Fußmatte unter mir, die mich ebenfalls mit einem Herzlich Willkommen begrüßt.
„Brook, komm rein und mach die Tür zu!", ruft meine Mutter und ich bin gezwungen mein neues Zuhause zu betreten. Hinter mir fällt die weiße Eingangstür sanft ins Schloss. Der Flur ist lang und doch relativ breit. Ich umklammere den Gurt meiner Umhängetasche und erkunde misstrauisch meine neue Umgebung. Im ersten Raum sehe ich das Bad, daneben das Schlafzimmer meiner Eltern, gegenüber die geräumige und lichtdurchflutete Küche, die Mama sich neu ausgesucht hat. Ich schleiche weiter und komme zum Wohnzimmer, was in den Wintergarten und letztendlich in den Garten endet. Dort stehen unsere Sofas, unsere Schränke und unser Fernseher. Alles wie immer, aber alles am falschen Ort. Gegenüber der Wohnzimmertür beginnt eine Treppe, die ins obere Stockwerk zu führen scheint. Von wo ich auch schon die aufgeregten Stimmen meiner Eltern höre.
Die Treppenstufen knarzen unter meinen Schritten und ich bin froh, dass sie nicht doch irgendwo eingebrochen ist. Oben sollen sich die Schlafzimmer für die Kinder befinden, das hat mir mein Vater bereits erzählt, und das ich mit eines der größten Zimmer im Haus habe. Sogar ein eigenes Bad soll die obere Etage haben. Und ein Gästezimmer, falls wir mal Besuch bekommen. Innerlich habe ich gelacht, als er mir das erzählt hat. Wer will uns hier schon besuchen, geschweige denn finden? Auf dem Flur stehen meine Eltern und scheinen sehr zufrieden mit ihrer Arbeit zu sein. Sie haben unsere Möbel schon vor einer Woche hier her karren lassen und haben sie vorgestern mit einigen Handwerkern fertig aufgebaut. Solange haben ich und meine Brüder zwei Straßen weiter bei Oma übernachtet.
Mama entdeckt mich und zieht mich sofort in einen der Räume. Er ist groß und geräumig und sehr hell eingerichtet. Es ist mein Zimmer, das weiß ich, denn trotz meiner Proteste habe ich natürlich bei der Auswahl meiner Möbel, Teppiche, Jalousien und Tapeten ein Wörtchen mitgeredet und mir alles ausgesucht. Papa hat Recht, das Zimmer ist wirklich sehr groß und die Möbel passen perfekt zur Tapete und Farbe an den Dachschrägen und dem Holz der Dachbalken, aber das ist nicht mein Zimmer. Es ist alles unpersönlich, nirgends auch nur ein Anzeichen davon, dass hier jemand wohnt, der ich sein könnte. Neben der Tür entdecke ich einen Umzugskarton, der von Mama und Papa anscheinend noch nicht angerührt worden ist. Mit rotem Edding hat jemand groß meinen Namen geschrieben.
„Hier sind deine ganzen Dekosachen drin. Wir haben uns gedacht, dass du bestimmt weißt, wo du sie am besten hin räumst und wir wollten dir da nicht zwischen funken. Die Bücher und Musik-CDs haben wir allerdings schon in die Regale geräumt, aber ohne dein Sortiersystem zu zerstören. Nebenan ist auch direkt das Bad, es gehört sozusagen dir." Meine Mutter versucht es mit einem aufmunternden Lächeln, aber eigentlich ist mir nur nach Heulen zumute. Mama bemerkt, dass ich jetzt Zeit für mich brauche und das Lächeln verschwindet wieder.
„Also, tob dich aus, Schatz. Die anderen Sachen holen wir später hoch. Sag einfach Bescheid, dann bringen wir sie dir. Um sechs gibt's Essen. Dein Lieblingsessen, Oma hat mir das mitgegeben." Erneut taucht dieses Lächeln auf und nur um meiner Mutter einen Gefallen zu tun, erwidere ich dieses Lächeln halbherzig.
„Danke." Das ist das erste, was ich seit Stunden sage. Das erste Wort in meiner neuen Heimat, ein dahin genuscheltes Danke. Dabei habe ich eigentlich nichts, wofür ich mich bedanken könnte. Mama scheint sich damit zufrieden zu geben und schließt die Tür hinter sich. Ich höre sie und Papa auf dem Flur noch etwas reden, dann Knarzen die Treppenstufen.
Ich stelle meine Tasche auf den Boden und schaue mich um. Alles ist so hell und so unpersönlich, es sieht aus wie in einem Schöner Wohnen- Magazin. Ich knie mich vor den Karton und öffne ihn. Sofort grinst mich mein Dinosaurier an, den Maggie mir aus Spaß mal zu Weihnachten geschenkt hat und seitdem einen Ehrenplatz auf unserem Schreibtisch gehabt hat. Ich hole ihn raus und plötzlich merke ich, wie mir das Wasser immer höher steigt. Maggie ist nicht mehr da, ich bin gefangen in einem Kaff, wo der Hund begraben liegt und habe keine Ahnung, wie sich hier draus noch irgendetwas Gutes entwickeln kann. Ich rede mir ein nicht zu weinen und stelle das Spielzeug auf meinen neuen Schreibtisch. Dann hole ich noch andere Dinge aus dem Karton, meine Dekokissen und meine Überdecke wandern direkt aufs Bett zusammen mit dem Stoffsnoopy, den Oma mir zu meiner Einschulung geschenkt hat. Und der als einziges meiner Kuscheltiere meine pubertäre Anfangsphase überlebt hat.
Ich rücke noch etwas die restlichen Dekorationen auf meinem Schreibtisch zurecht, verschiebe die Teppiche an eine andere Position und überprüfe, ob man meine CDs auch wirklich nicht durcheinander gebracht hat, genauso wie meine Bücher. Ich leere meine Umhängetasche aus, stelle sie neben mein Bett und legte meine Kopfhörer neben die CDs in den Schrank. Danach setze ich mich auf mein Bett und schaue mich um. Das Zimmer sieht nun doch etwas besser aus, etwas mehr wie mein Zimmer. Aber alles wirkt so unwirklich. Ich lasse mich nach hinten fallen und starre aus den beiden Dachfenstern über mir in den blauen Augusthimmel, der sich schon etwas lila verfärbt.
Ich schließe die Augen und lausche meinen eigenen Atemzügen. Es ist so unerträglich ruhig. Kein Feierabendverkehr, keine Menschen auf den Gehwegen, keine nervigen Mieter, kein Kleintransporter, der den Bioladen unter uns beliefert, kein Straßenmusiker unten an der Ecke. Es riecht nicht nach Staub und Autoabgasen, nicht nach teurem Kaffee, nicht nach Pommes Rot-Weiß, nicht nach abgestandenen Mülltonnen im Sommer, nicht nach verschiedenen Parfüms. Es sieht nicht aus nach riesigen Häuserfassaden, nicht nach grellen Neonlichtern, nicht nach bunten U-Bahnlinien, nicht nach unendlichen Möglichkeiten. Mein gesamtes Leben, einfach alles...
Alles hat sich aufgelöst inein großes Nichts.
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Mit Herz und Huf - Gefunden
Teen FictionBrooklyn ist ein Kind der Stadt, das ist sie seit ihres ersten Tages und das wird sie auch immer bleiben. Davon ist sie zumindest immer stark ausgegangen. Doch wie es das Schicksal will, kommt ihrem perfekten Leben ein Umzug dazwischen. Und ausgerec...