Etwas außer Atem erreiche ich den Hof. Nicht weil ich mich so beeilt habe, sondern, weil es immer noch so unglaublich schwül und heiß ist. Aber langsam verdichten sich die dunklen Wolken über Rosswald und der Wetterbericht hat heute auch endlich den erlösenden Regenschauer angekündigt.
Scheriff kann ich nirgends entdecken, als ich mein Rad neben mir über den Kies schiebe und auf den Stall zusteuere. Die grünen Holztore sind weit aufgeschoben und ich nutze die Gelegenheit und schiebe mein Fahrrad direkt in den Stall. Falls es in den nächsten Stunden anfangen sollte zu regnen, will ich, dass wenigstens das Damenrad trocken bleibt, während ich draußen mit Juli herumlaufe.
Leider hat sie mir heute kurz nach der Schule in einer schwammigen SMS erklärt, dass unsere Pläne für Flashlight heute ins Wasser fallen und sie mich stattdessen wieder in den Sattel setzen will. Warum sie mal wieder alle Pläne über den Haufen wirft, hat sie mir weder erklärt, noch auf meine Nachfrage hin versucht, mich mit einer halbherzigen Entschuldigung abzufrühstücken.
Ein Schnauben lässt mich aufschauen, während ich mein Rad in eine der hinteren Ecken schiebe, damit es niemandem im Weg ist. Ein großes schwarzes Pferd schaut aus der ersten Box und mustert mich mit seinen großen Augen. Auch aus den anderen Boxen strecken vereinzelt Pferde ihre Köpfe heraus. Ab und zu höre ich auch ein Schnauben oder das Rascheln von Stroh.
Ich gehe auf das große schwarze Tier zu, was mich schon die ganze Zeit beobachtet und lege meine Hand auf seine weiche Nase.
„Was macht ihr denn schon wieder hier? Ist doch noch gar nicht eure Zeit." Das Pferd schnaubt und drückt seine Nase gegen meine Hosentaschen, auf der Suche nach etwas Fressbaren. „Sorry, hier findest du nichts. Heute habe ich nichts mit." Ich erhasche einen Blick auf die Schiefertafel an der Tür der Box.The forbidden Blacklist
Hengst, geb. 12.04.2007
aus Gräfin, von TiagoIch schiebe die große Nase des Pferdes weg, als es erneut nach Leckerlis suchen will.
„The forbidden Blacklist, was? Deine Besitzer haben dich aber auch nicht wirklich gemocht, oder?" Blacklist nimmt den Kopf hoch und scheint zu nicken, als habe er mich verstanden und ich lache. Immerhin scheint er auf seinen Namen zu hören.
Ich lasse das Pferd wieder in Ruhe und gehe zu Melodys Schrank, um meine Tasche einzuschließen. Mein Handy lege ich wieder in eine der Innentaschen und werfe einen letzten Blick auf die Uhr. Ich runzle die Stirn. Juli ist spät dran. Eigentlich müsste sie schon längst hier sein und ungeduldig auf mich warten.
Gerade als ich die scheppernden Metalltüren wieder verschließe, höre ich vorm Stall den Kies knirschen. Die Schritte sind langsam und ich grinse. Sie scheint sich nicht mal bewusst zu sein, dass sie sich verspätet hat. Endlich kann ich sie mit ihren eigenen Waffen schlagen.
„Du bist spät dran, Juli. Ich dachte, wir wollten pünktlich anfangen." Gerade als ich Juliane frech angrinsen will, steht eine andere Person im offenen Tor.
„Kilian?" Mein siegessicheres Grinsen verschwindet. Er lächelt mich an und betritt schulterzuckend den Stall. Hinter ihm hält er zwei Pferde am Führstrick, die ihm bereitwillig folgen.
„Jap, nicht Juli, nur ihr großer Bruder mit Anhang", erwidert Kilian, als er meine Verwirrung bemerkt. Er führt die beiden Pferde hinter sich in den Stall und läuft weiter die Stallgasse entlang an mir vorbei.
„Sorry, ich wollte nicht unhöflich klingen. Ich habe sie nur vermisst." Kilian grinst.
„Wenn du willst, kann ich natürlich kurz die Rolle meiner kleinen Schwester übernehmen. Zickig bekomme ich hin." Er lacht und ich muss lächeln. Ich lasse Melodys Schrank in Ruhe und folge Kilian.
„So habe ich das jetzt nicht gemeint", antworte ich augenrollend. Kilian lacht und hält an. Ich komme zu ihm und er drückt mir den Strick des kleineren Pferdes in die Hand. Es hat hellbraunes Fell und eine lustig geschnittene Mähne, die hinter den Ohren hoch steht. Sofort streckt es mir seine warme Nase ins Gesicht.
„Sag schön guten Tag, Nikolaus, so ist es fein!", lacht Kilian und bringt das andere Pferd kichernd in seine Box.
„Haha", sage ich sarkastisch und schiebe Nikolaus' Nase zurück. Ich gebe Kilian den Strick zurück, nachdem er dem anderen Pferd das Halfter abgenommen hat und die Tür der Box wieder verriegelt hat. Wir gehen weiter nach hinten in den Bereich des Stalls zu den Boxen der Schulpferde.
„Warum bringt ihr sie schon alle wieder rein?", frage ich und beobachte die verschiedenen Pferde, die immer wieder in den schon verschlossenen Boxen auftauchen. Kilian deutet aus einem der halbrunden Fenster oben in der Außenmauer.
„Es soll gewittern. Hätte es nur geregnet, wäre es nicht dramatisch gewesen, aber bei Blitz und Donner möchten wir sie nur ungern draußen haben."
„Weil sie euch sonst durchgehen?" Kilian schüttelt den Kopf und wir betreten den mittleren Bereich des Stalls.
„Nein, die meisten unserer Pferde kommen eigentlich echt gut mit Gewitter aus. Aber unsere Wiesen sind immer nah an Wäldern und hohen Bäumen und das Risiko, dass da der Blitz direkt neben den Pferden einschlägt, ist einfach zu groß." Ich nicke.
Kilian führt Nikolaus in eine der offenen Boxen und ich überfliege neugierig die kleinen Schiefertafeln auf den Türen der Nachbarboxen. Bei einem Pferd ist sogar ein Reiter eingetragen.
„Ihr habt hier schon echt seltsame Namen", murmle ich. „Goldregens Vito? Mary Sue vom Zaubergarten? Und, was soll das heißen?" Ich lehne mich etwas weiter nach vorne, um eine der Schiefertafeln entziffern zu können. „Starfire's Dauntless Divinity of Triumph? Mögt ihr eure Tiere etwa nicht?" Ich grinse, als Kilian lachend aus Nikolaus' Box kommt.
„Doch, wir mögen unsere Tiere sogar so sehr, dass sie alle Spitznamen haben." Er kommt zu mir. Die Box von Pferd-mit-unsagbar-langem-Namen ist zwar leer, aber die Tür trotzdem geschlossen. Wir beide mustern das Schild.
„Er ist das erste Fohlen von Pearl gewesen. Leider ist er nicht so geworden, wie sich die Zuchtlinie das gedacht hat, also haben wir ihn kastriert und für den Schulbetrieb ausgebildet. Und da macht er sich wirklich wunderbar." Ich stocke.
„Pearl? Ist das nicht das große schwarze Pferd, dass gerade mit dem kleinen orangenen Fohlen rumläuft?" Kilian lacht, nickt aber.
„Ja, das ist Starfire's Black Pearl of Delight. Und das kleine fuchsfarbene Fohlen ist Starfire's Pretty Lady in Red." Ich pruste los.
„Die heißen alle so?" Kilian nickt.
„Zuchtnamen. Das ist schon immer so gewesen. Zugegeben, die Starfire- Linie schlägt etwas über die Strenge, aber ansonsten nichts Ungewöhnliches. Wir haben auch einen gehabt, als Opa damals noch aktiv gezüchtet hat. Wir haben Suffixe genutzt, damit die Pferde wenigstens einen schönen Vornamen haben." Ich mustere Kilian.
„Ihr habt hier gezüchtet?" Er nickt und wir gehen zum großen Holztor, wodurch die Schulpferde sonst den Stall betreten.
„Ja, lange. Deswegen existiert der Hof ja auch. Ganz früher war hier die Zucht von Kaltblütern verankert, aber relativ früh kam dann der Wechsel zu Sportpferden. Ganz nach oben haben es nur wenige unserer Pferde geschafft, aber hier waren wir überall bekannt. Viele haben unsere Stuten und Hengste auch genutzt, um die guten Sportpferde zu verfeinern oder neues Blut in die alten Zuchtlinien zu bringen. Irgendwann war es modern, sich ein Pferd privat zu halten und dann haben wir auch andere Pferde aufgenommen und die hier trainiert. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Zucht aber immer weniger gerechnet, weswegen wir jetzt eigentlich nur noch ein Schul- und Pensionsbetrieb sind." Ich höre ihm gespannt zu, während wir durch die Holztür im Tor in die Hitze treten. Gemeinsam überqueren wir den Hof und suchen Schutz im Schatten der Eiche.
„Es ist irgendwie cool, so einen Ort mit Geschichte zu haben", meine ich und schaue mich um. „Aber woher weißt du das alles?" Kilian zuckt mit den Schultern.
„Wir haben noch alte Dokumente und Zuchtbücher von ganz früher und Opa hat immer gerne von seiner Kindheit hier erzählt. Ich habe die Geschichten immer sehr gemocht." Ich grinse schief.
„Sozusagen Geschichte zum Anfassen." Er nickt und grinst.
„Naja, nicht alle haben natürlich so ein Sammelproblem wie meine Vorfahren. Ich meine, wer hebt über Jahrhunderte alte Stammbücher auf?" Ich lache und seufze. Die Hitze und Schwüle machen mich schon wieder fertig. Dann erinnere ich mich daran, warum ich überhaupt hier bin.
„Weißt du eigentlich, wo Juli ist? Ich mache mir langsam echt Gedanken, sie ist sonst immer pünktlich." Kilian nickt und zeigt auf den Pensionsstall.
„Sie müsste noch in der Halle beim Unterricht sein, wenn sie dir nicht begegnet ist. Sie hat Eva zugesagt, dass sie ihr beim Unterricht hilft. Das dauert manchmal etwas. Einfach in den Stall rein und immer die Stallgasse entlang. Irgendwann taucht das Tor zur Halle auf." Ich nicke dankbar und hebe zum Abschied kurz meine Hand, während ich mich zum Gehen wende.
„Danke, wir sehen uns bestimmt später nochmal." Kilian grinst mich zum Abschied an und verschwindet in Richtung des Wohnhauses. Ich nähere mich neugierig dem Pensionsstall.
Das Gebäude ist bei weitem nicht so alt, wie der andere Stall, dass erkenne ich. Die Wände sind verputzt und nicht aus Stein. An der langen Seite, die dem Innenhof zugewendet ist, hat jemand Blumenbeete angelegt, auf denen verschiedene Wildblumen ihre Blüten in der Hitze hängen lassen. Über den Blumenbeeten an der Außenwand hängt die aus Metallstangen geformte Rosenblüte.
Nur die grünen Holztore scheinen sie beim Bau des Pensionsstalls übernommen zu haben. Eines steht offen und ich betrete ehrfürchtig das Gebäude. An den Außenseiten sind die Boxen der Pferde und überall stehen Besen, Kisten und Eimer herum. Die Schränke sind mit Namen beschriftet und nur wenige mit dem Bild des dazugehörigen Pferdes beklebt. Ich folge der engen Stallgasse, wie Kilian es gesagt hat, und tatsächlich finde ich auf der anderen Seite das Tor, was in die Mitte des Gebäudes führt. Der Eingang zur Halle.
Eine Holzwand versperrt mir den Zutritt auf die Sandfläche, aber davor gibt es einen kleinen Bereich, auf dem neben einigen Kisten und zwei Stühlen sich auch sowas wie eine kleine Minitribüne befindet, die sehr nach Marke Eigenbau aussieht. Unter diesem Konstrukt liegen ein paar bunt angemalte Stangen. Doch anstatt mir weiter Gedanken um die Unordnung zu machen, stelle mich dicht an die Holzwand und bestaune die Szenerie, die sich mir bietet.
Auf dem gesamten Platz sind komische Holzgestelle aufgebaut und auf Haken dazwischen diese bunten Stangen gelegt. Vor der Tribüne auf dem Sandplatz aufgereiht stehen vier Pferde samt Reiter. Es sind Kinder, die alle gebannt den Platz beobachten. Der älteste in der Gruppe sieht aus wie dreizehn, trägt seine Brille schief im Gesicht und sitzt auf einem roten Pferd, was aussieht, als wäre es durch die Sonne inzwischen ausgeblichen. Neben ihm zwei Mädchen, die zwischendurch aufgeregt tuscheln und ihre Reitkappen hochgezogen haben, um alles genau beobachten zu können. Sie scheinen nicht älter wie meine beiden Brüder zu sein. Die Schwarzhaarige sitzt auf einem gefleckten Tier, was müde den Kopf hängen lässt und die andere auf einem hellbraunen Pferd. Ich erkenne, dass es das Mädchen ist, das mal in mich hineingekracht ist und so unglaublich schnell gesprochen hat. Und neben ihnen auf einem weißen Pony sitzt ein kleines junges Mädchen, was mit offenem Mund durch die Halle schaut. Am Rand der Halle bemerke ich eine Frau mit kurzen dunkelroten Haaren, die langsam auf und ab geht und immer wieder anerkennend jemanden zunickt. Jetzt sehe ich auch, was sie alle beobachten. Einen Reiter auf einem braunen Pferd.
Er lenkt sein Pferd auf das erste Holzgestell zu und ohne Probleme springt es über die bunten Stangen. Einige Schritte weiter dann auch schon über das nächste. Der Reiter wendet das Tier und galoppiert an der Holzwand vorbei. Er hat den Blick hochkonzentriert schon auf das nächste dieser Hindernisse gerichtet und die blauen Augen blitzen dabei auf. Ein brauner Zopf guckt unter dem schwarzen Helm hervor.
Es ist Juli.
Gespannt drücke ich mich gegen die Holzwand und beobachte fasziniert, wie sie die nächsten beiden Hürden ansteuert und mit dem Pferd darüber springt.
Nein, nicht springt. Die beiden fliegen.
Auch die Kinder schauen immer noch beeindruckt hinter ihr her. Sie reitet erneut eine Kurve und das Pferd springt über die nächsten Stangen. Kaum hat es die Hufe wieder im Sand aufgesetzt, fangen die Kinder an zu klatschen.
„Super, Juli!", ruft der Rammbock von Mädchen und strahlt. Juli bremst das Tier und reitet im Trab noch eine Runde an der Außenwand der Halle entlang. Dabei nickt sie den Kindern dankend zu. Die rothaarige Frau tritt jetzt vom Rand in die Mitte des Platzes.
„Was hat Juliane gemacht? Also anders, wie ihr es vorhin bei dem einen Hindernis alle gemacht habt." Sie spricht mit einem polnischen Akzent und wirkt in ihrer Rolle gerade hoch professionell. Die Kinder haben aufgehört zu klatschen und wirken ratlos.
„Ach kommt, Kinder!" Die Frau klatscht in die Hände. Sie schaut auffordernd in die Runde.
„Ähh..." Der Junge auf dem roten Pferd nestelt an den Zügel herum und schaut nervös auf seine Hände. „Sie hat... das Tempo aufrechterhalten?" Er formuliert es mehr als eine Frage, als eine wirkliche Antwort. Die Frau schüttelt den Kopf und lächelt entschuldigend.
„Nicht ganz falsch. Es ist wichtig, dass ihr das Pferd nicht ständig beschleunigen und abbremsen lasst. Es braucht einen Rhythmus zum Springen. Aber das meine ich nicht." Ihr Blick fällt auf das Mädchen mit der schnellen Sprechweise. Ich merke, wie sie Panik bekommt und ihr Sitz sich versteift.
„Ähh, also, ähm... Juli hat... sie ist..." Das Mädchen wirft einen Blick rüber zu Juli, die inzwischen im Schritt weiterreitet. „Juli hat die Zügel kürzer genommen." Wirklich überzeugt klingt das zwar nicht, aber die Frau scheint einsichtig.
„Das war es nicht, nein. Denk nochmal nach, Anabel." Demütig lässt das Mädchen die Schultern hängen. Plötzlich meldet sich das schwarzhaarige Mädchen zu Wort.
„Sie ist mit Triumphs Bewegungen mitgegangen. Sie ist richtig aus dem Sattel raus und hat den Sprung mit den Knien und den Fußgelenken abgefedert." Die Frau lächelt.
„Das meine ich. Richtig, Amrei." Die Schwarzhaarige setzt sich stolz auf und nimmt die Zügel wieder fester in die Hand. „Ihr müsst darauf achten, mit euren Bewegungen nicht vor oder hinter den Bewegungen des Pferdes zu sein. Sonst wird das für euch und das Pferd unangenehm." Die Frau beginnt vor den Kindern auf und ab zu laufen, während sie ihnen das Springen näher erklärt. „Wie ihr gesehen habt, ist Juli mit Triumph über die Hindernisse, indem sie ihre Bewegungen im Sattel seinen Sprungbewegungen angepasst hat. Vorhin, wie ihr vielleicht gemerkt habt, hat das bei euch noch nicht so gut funktioniert. Ihr seid den Sprung noch nicht optimal mitgegangen. Hoch war gut, aber der Rücken muss gerade bleiben und ihr müsst noch lernen, den Sprung am Ende gut abzufangen, sonst kracht ihr den Tieren in den Rücken." Die Frau macht wilde Handbewegungen während ihrer Erzählung und die Kinder hängen ihr an den Lippen. Sie hat die ungeteilte Aufmerksamkeit der gesamten Gruppe. Und auch von mir.
Dann wendet sie sich von den Kindern ab und nickt Juliane zu, die immer noch mit dem braunen Pferd ihre Runden am Rand der Sandfläche dreht und sich zwischen den Hindernissen hindurchschlängelt.
„Danke, Juliane, du bist nun entlassen", sagt sie freundlich und lächelt Juli fast übertrieben breit an. Diese nickt und kommt auf die Holzwand zu. Sie klopft ihrem Pferd den Hals und lässt die Zügel hängen. Als sie aufschaut, stockt sie. Ich grinse sie kurz an. Sie lächelt nicht zurück. Sie lächelt nicht zurück.
„Mach mal das Tor auf", ist alles was sie sagt, während hinter ihr der Unterricht weiter geht. Ich nicke und finde den Riegel, der das Tor in der Wand festmacht. Ich schiebe ihn auf und schiebe die Holzwand an die Seite.
Ohne mich eines Blickes zu würdigen, steigt sie ab, wirft die Steigbügel über den Sattel und führt das Pferd an mir vorbei in die Stallgasse des Pensionsstalls.
„Tor wieder zu!", ruft sie mir zu, als ich hinter ihr her eilen will. Ich schiebe das Tor wieder zu und den Riegel zurück in das Loch in der Wand. Dann folge ich dem verklingenden Hufgeklapper in der Stallgasse.
„Wie machst du das?" Kaum habe ich Juli erreicht, kann ich es gar nicht vermeiden, dass mir diese Frage herausrutscht.
„Was?" Beim Laufen wippt ihr Zopf leicht hin und her.
„Na, das Springen! Das sah phänomenal aus. Als wärt ihr geflogen. Wie machst du das?" Juli gibt einen seltsam schnorchelnden Ton von sich und wirft mir einen kurzen Blick über ihre Schulter zu. Die Stallgasse hier ist nicht breit genug, um mich am Pferd vorbeischlängeln zu können, um auf gleicher Höhe mit Juli zu sein.
„Üben, jahrelanges Üben. Da bist du noch weit von entfernt." Natürlich reibt sie mir mein Nichtwissen und -können wieder unter die Nase, aber ich muss sagen, ich hätte mich gewundert, wenn sie es nicht getan hätte.
„Ja, ich weiß, aber... Das sah so professionell aus. Du hast nichts davon erzählt, dass du sowas kannst!" Juli zuckt mit den Schultern.
„Du hast nie gefragt." Ich verdrehe die Augen. Sie hat anscheinend keine Lust mehr mit mir zu diskutieren.
„Aber... sagtest du nicht mal, du wärst auch mal Turniere geritten? Hast du sowas gemacht?" Sie tritt durch das Tor aus dem Gebäude ins Freie und stellt sich an die Mauer. Dort schaut sie eben nach der Lage des Sattels und streicht ihrem Pferd abwesend über den Rücken, fast so, als habe sie mich nicht gehört. Sie ignoriert mich wieder. Aber ich werde meine Antwort heute bestimmt noch bekommen, da bin ich mir sicher. Wenn jetzt nicht, dann später.
„Ich habe mir vorhin schon Gedanken gemacht, weil du zu spät bist. Hast du über das Springen die Zeit vergessen?", wechsle ich das Thema, in der Hoffnung sie wieder zum Reden zu motivieren.
„Ich habe nicht gedacht, dass du doch so pünktlich hier auftauchst", meint sie und nimmt das Pferd wieder an den Zügeln, um es an mir vorbei zu führen.
„Jaja, natürlich...", murmle ich in den Kragen meines T-Shirts. „Was machen wir denn heute?", frage ich wieder laut. Juli schaut kurz über ihre Schulter zu mir zurück und zeigt zum Hauptstall.
„Mach Melody fertig, wir treffen uns dann gleich auf dem Platz. Sie müsste schon im Stall stehen. Wo der Sattel und der restliche Kram ist, weißt du ja." Sie beschleunigt ihre Schritte und ich gebe die Verfolgung auf. Juli geht auf den überdachten Reitplatz zu und ich gehe zurück in den Stall.
„Die ist heute wohl wieder mit dem falschen Bein aufgestanden", murmle ich genervt als ich den Stall betrete und Melodys Schrank aufschließe. Ich nehme das Halfter und den Strick von dem Haken an der Innenseite der Metalltür. Dann gehe ich zurück zu den Boxen, wo die Schulpferde untergebracht sind. Warum Melodys Schrank sich soweit von ihrer Box entfernt befindet, muss Juli mir auch mal erklären.
Hinten, kurz vor der Biegung finde ich ihre Box. Ich ziehe den Riegel zurück und werde schon mit einem freundlichen Schnauben von der anderen Seite begrüßt. Melody steckt ihren Kopf über die Holztür.
„Hallo, Melody. Heute geht es uns wieder an den Kragen." Ich klappe die Tür auf und schiebe Melody mit einer Hand am Nasenrücken leicht zurück in die Box. Dann lege ich ihr das Halfter an und führe sie in die Stallgasse.
Ich führe sie zum Metallgeländer und binde sie fest, um sie zu striegeln und zu satteln. Ich klopfe ihr den Hals und mache mich schließlich in ihrem Schrank auf die Suche nach dem Putzkasten. Ich bücke mich, um ihn aus dem untersten Fach hervor zu holen.
„Ach, reitet ihr heute wieder?" Erschrocken springe ich hoch, lasse den Putzkasten auf halber Strecke fallen und knalle prompt gegen die Haken für das Zaumzeug. Fluchend reibe ich mir den Hinterkopf und stolpere rückwärts in die Stallgasse.
„Es tut mir so leid, ich wollte dich nicht erschrecken! Geht es wieder?" Ich schaue auf und sehe Kilian, der mich besorgt mustert. Ich nicke mit zusammengebissenen Zähnen.
„Ich habe dich nicht kommen hören", sage ich angestrengt und hebe den Putzkasten auf, der beim Hinfallen natürlich aufgegangen ist. Ich werfe die Bürsten eilig wieder rein und trage den Kasten immer noch geöffnet zu Melody.
„Ja, ich hätte vielleicht noch was sagen sollen, bevor ich dich so überfalle." Kilian grinst schief und nimmt mir den Striegel ab, den ich aus der Kiste hole. „Warte, ich helfe dir eben. Es gewittert jeden Moment, vielleicht schaffst du es dann zumindest noch trocken zum Platz." Dankbar lächle ich ihn an und nehme die zweite Gummibürste in die Hand.„Juli, muss das so wehtun in den Oberschenkeln?" Juli lacht und reitet mit Triumph am äußeren Rand des Platzes entlang, während ich mich am inneren Rand am Traben versuche. Was ich jetzt schon absolut verabscheue. Und dabei habe ich gerade mal die erste Stunde hinter mir.
„Ja, das muss so. Aber inzwischen hast du den Rhythmus besser raus, merkst du?" Draußen strömt es. Kurz nachdem wir mit unserer Reitstunde begonnen haben, hat das Gewitter angefangen, wie Kilian es gesagt hat. Zwar hat das Blitzen und Donnern schon vor einer Weile aufgehört, doch es kübelt immer noch wie aus Eimern.
„Kannst du nicht einfach wieder dieses Seildings dran machen?", frage ich und versuche mich gleichzeitig auf das zu konzentrieren, was mir Juli die letzte Dreiviertelstunde über eingeprügelt hat.
Aufstehen, Setzen, Aufstehen, Setzen, Aufstehen, Setzen...
„Nein, das funktioniert doch auch so. Einfach weiter auf das achten, was ich dir erklärt habe. Und wenn du mal aus dem Takt kommst, einfach beim nächsten Mal wieder einsteigen." Sie reitet mit Triumph in die Mitte des Platzes und steigt ab. „Du kannst sie jetzt aber in den Schritt durchparieren und zu mir kommen. Es ist schon spät. Wir machen die nächsten Tage weiter." Dankbar atme ich aus, setze mich etwas zurück und nehme die Zügel kürzer. Melody wird langsamer und wir gehen im Schritt weiter.
„Das ist so anstrengend. Wie machst du das nur immer?" Ich lenke das Pony in die Mitte des Platzes auf Juli und Triumph zu und bringe es schließlich mit einem langgezogenen ‚Steh!' zum Halten.
„Jahrelange Übung, was soll ich sagen?" Juli grinst mich breit an und scheint keinerlei Mitgefühl mit mir zu haben. Ich steige ab und merke immer noch das Ziehen in meinen Oberschenkeln. Es wäre ein Wunder, wenn ich morgen überhaupt in der Lage sein werde, mich aus dem Bett zu wuchten. „Und die Schmerzen gehen irgendwann vorüber. Spätestens wenn dein Körper sich an diese Belastung gewöhnt hat." Ich verdrehe die Augen. Irgendwie habe ich das schon mal gehört.
Sie wirft Triumph die Zügel über den Hals und führt ihn an mir vorbei zum Ausgang. Ich folge ihr und Melody trottet brav neben mir her.
„Wenn du dich in deinem Sitz noch etwas besserst, im Trab und im Schritt, nehme ich dich nächste Woche vielleicht mit auf einen Ausritt, was sagst du? Dann kannst du deine Fähigkeiten mal im Gelände erproben." Ich grinse.
„Klingt nicht schlecht. Ist bestimmt mal was anderes, als ständig hier auf dem Platz unterwegs zu sein." Wir erreichen das Ende des überdachten Reitplatzes. Vor dem Metalltor bleiben wir stehen und starren auf die Regenfront. Die Tropfen klatschen auf den Boden auf und zerspringen in viele kleine einzelne Tröpfchen. Auf dem zuvor so staubigen Boden haben sich nun lange Pfützen gebildet.
„Willst du jetzt echt raus in den Regen?" Juli verzieht das Gesicht.
„Nicht wirklich, aber wir können hier nicht warten, bis es aufhört. Sonst kommen wir nie im Leben zu Deutsch. Ich hoffe, du hast eine Kapuze." Ich schaue an meinem T-Shirt und meiner geliehenen Reithose runter.
„Das soll doch wohl ein Scherz sein." Juli lacht und öffnet das Tor mit einem quietschenden Geräusch.
„Wer zuerst im Stall ist!", ruft sie und joggt dann los in den Regen. Triumph trabt hinter ihr her. Die beiden scheinen diesen kleinen Schauer auch noch zu genießen. Ich werfe einen letzten Blick hoch zum grauen Himmel.
„Ach, wird schon schief gehen", meine ich zu Melody, die mich treu aus ihren Kulleraugen mustert. Ich wuschle ihr durch ihren dicken Schopf und sie stupst mich mit ihrer weichen Nase an. Dann laufen wir Juli und Triumph hinterher.
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Mit Herz und Huf - Gefunden
Novela JuvenilBrooklyn ist ein Kind der Stadt, das ist sie seit ihres ersten Tages und das wird sie auch immer bleiben. Davon ist sie zumindest immer stark ausgegangen. Doch wie es das Schicksal will, kommt ihrem perfekten Leben ein Umzug dazwischen. Und ausgerec...