31. Seelenpferd

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„Ihr wisst, wie ihr später wieder nach Hause kommt?" Ich werfe einen fragenden Blick zu meinen Brüdern, die mit einem kleinen Werkzeugkasten und ihren Rucksäcken bewaffnet neben mir herlaufen. Sie nicken.
„Jap, wir kennen den Weg", antwortet Luis.
„Zur Not haben wir ja unsere Handys mit", ergänzt Leon und klopft auf seinen Rucksack.
„Naja, immerhin...", murmle ich vor mich hin und wende mich dann wieder an meine Brüder. „Ich werde nämlich nicht auf euch warten. Wenn ich fertig bin, gehe ich. Und ihr braucht nicht alle paar Minuten zu mir kommen, klar? Juli und ich haben selber genug zu tun!" Die Zwillinge nicken. Seufzend drehe ich den Regenschirm in meiner Hand und schaue unsicher nach oben. Es hat seit gestern Abend nicht aufgehört zu regnen, doch laut Wetterdienst soll es sich im Laufe des Nachmittages wieder bessern. Meine Brüder haben auf einen Regenschirm verzichtet und haben stattdessen ihre neuen Funktionsjacken an. Wo auch immer Mama die besorgt hat.
Ich sehe bereits sie Steinsäulen mit den Pferdestatuen. Ich weiche einer breiten Pfütze aus und meine Brüder springen mit Anlauf drüber. Lachend rennen sie auf die Auffahrt zu und betreten ehrfürchtig den Hof. Ich folge ihnen.
Kaum haben sie einen Fuß auf den Platz gesetzt, läuft ihnen Scheriff kläffend entgegen.
„Ist gut, Scheriff, die gehören zu mir!" Der große Hund hört auf zu bellen, aber ich höre, wie er immer noch leise knurrt. Ich lenke meine Brüder zum Haupthaus und drücke die Haustür auf. Sie ist nicht abgeschlossen.
Im Flur schließe ich dankbar den Regenschirm und öffne meine Jacke ein wenig. Meine Brüder stehen nun etwas ratlos im Hausflur und schauen sich neugierig um. Ihr Blick bleibt an dem großen Gemälde vom springenden Pferd hängen.
„Da vorne rechts die Tür. Einfach klingeln und nach Sebastian fragen", sage ich und deute auf die Haustür der Familie Bergmann. Unsicher nähert sich Luis der Tür und drückt auf die Klingel. Ich stelle derweil meine Tasche in den Flur und ziehe mein Handy aus meiner Jackentasche. Eine neue Nachricht von Juli. Sie wartet im Stall auf mich.
Die Wohnungstür öffnet sich und Erika steht vor meinen Brüdern.
„Na, wer seid ihr denn?" Sie wirft einen unsicheren Blick an ihnen vorbei, doch als sie mich entdeckt, lächelt sie. „Ach, Brooklyns Brüder, nicht?" Ohne ein Wort zu sagen, nicken meine Brüder gleichzeitig. „Wartet, ich hole Sebastian eben." Erika schenkt meinen Brüdern ein Lächeln und verschwindet wieder in der Wohnung. Meine Brüder schauen unsicher zu mir.
„Ihr Rührei ist fantastisch", meine ich, als ich ihre fragenden Gesichter sehe. Dann taucht auch schon Sebastian im Türrahmen auf.
„So, das sind also die zukünftigen Meerschweinchenbesitzer?" Wieder nicken meine Brüder gleichzeitig. Manchmal frage ich mich, ob sie nicht besser eine Person geworden wären, wenn sie sowieso schon alles gleich und auch gleichzeitig machen. „Großartig, ich habe das Holz gestern schon geholt. Es ist hinten im Schuppen mit den übrigen Drahtnetzen. Es ist zwar etwas am Regnen, aber das hält uns nicht auf." Sebastian lacht und ich sehe, wie die Augen meiner Brüder strahlen. Sebastian zwinkert mir eben zu und geht zurück in die Wohnung, um sich eine Jacke zu holen.
„Macht keinen Mist!", verabschiede ich mich von meinen Brüdern und mache mich auf den Weg in den Stall.
Der Regen hat tatsächlich schon etwas nachgelassen, aber trotzdem ziehe ich mir schnell meine Kapuze über und beeile mich, zum Stall zu kommen. Ich schlüpfe durch die grüne Holztür und schließe sie wieder hinter mir.
„Juli, ich bin da", rufe ich in die Stallgasse hinein und setze dankbar die Kapuze wieder ab.
„Ich bin hier hinten!" Juli steht an einem der Metallschränke und räumt irgendwas ein. Ich öffne den Schrank von Melody und wechsle eben meine Sneakers gegen die Reitstiefel. Die geliehene Reithose habe ich Zuhause schon angezogen. „Wo ist deine Tasche?" Juliane ist zu mir gekommen, mit Halfter und Führstrick in der Hand.
„Die habe ich im Hausflur gelassen", antworte ich und will den Schrank wieder schließen. Doch blitzschnell fischt Juli noch das Halfter von Melody von den Haken an der Tür. Der Führstrick hängt noch dran.
„Das brauchen wir." Sie reicht es mir und deutet hinter sich. „Du holst Melody und wir machen eben die Pferde fertig. Danach gehen wir auf den Platz und arbeiten noch etwas an deinem Trab." Ich nicke und mache mich auf den Weg in den Bereich des Stalls, wo die Schulpferde stehen. Einzelne Boxen sind schon wieder leer. Flashlights auch.
„Wie habt ihr ihn gestern reinbekommen?" Ich bleibe vor der abgehangenen Box stehen und schaue mich kurz nach Juli um, die meinen Blick kurz erwidert und mit den Schultern zuckt.
„Ging so. Vater hat es allein gemacht, ich vermute, dass Flashlight wieder völlig fertig war mit den Nerven danach. Die beiden kommen nicht sonderlich gut miteinander aus, vielleicht auch einfach, weil Vater langsam die Geduld verliert und sieht, wie das Pferd, in das seine Tochter ihre ganze Hoffnung gesetzt hat, das bezahlte Geld schon lange nicht mehr wert ist." Ich höre den bitteren Unterton in ihrer Stimme. „Aber immerhin ist er nicht weggelaufen. Das ist doch was..." Zu der Bitterkeit hat sich nun auch Ironie gepaart. Aber ich verstehe immer besser, was für Probleme Flashlight verursachen muss.
„Vielleicht kann ich ihn ja nächstes Mal reinbringen." Juli lacht auf und ich mustere die fast leere Schiefertafel. Da steht nicht mehr wie sein Name und sein Geschlecht. Der Rest ist leer.
„Du solltest aufhören, ihn zu unterschätzen. Flashlight mag draußen vielleicht ein lieber netter Kerl sein, aber hier drin ist alles voller Artgenossen. Die Situation hat sich hier schon viel zu hoch geschaukelt, als das du das noch in irgendeiner Form retten könntest." Ich atme wütend durch die Nase aus. Diese herablassende Tonlage wird sie niemals los.
„Einen Versuch wäre es doch wert!" Ich setze meinen Weg fort und kralle mich an dem Halfter von Melody fest. Hinter mir höre ich das Aufschlagen von Hufen auf dem Betonboden. Juli hat ihr Pferd wohl schon ausgesucht.
„Damit er dich umrennt und in einem Schock tot trampelt? Nein, danke. Ich verzichte. Wir dürfen nicht riskieren, dass jemand zu Schaden kommt. Dann lässt Vater ihn auf direktem Wege einschläfern und vom Abdecker holen lassen." Das Geräusch der Hufe hört auf. „Das will ich nicht."
Ich bin nun schon fast bei Melody angekommen und nehme Julis letzten Satz nur noch halb war. Ich öffne die Box des Ponys und lege ihr nach einer kurzen Begrüßung das Halfter an. Ich beeile mich, wieder in den Seitenflügel zu kommen, um Juli nicht nachzuhängen.
Sie hat ihr Pferd an dem Metallgeländer angebunden und kramt in einem abgenutzten Putzkasten nach der richtigen Bürste. Ihr Pferd schaut zu mir, als ich Melody neben es führe, um sie ebenfalls festzumachen. Ich erkenne das weiße Pferd.
„Heute nimmst du Picasso?" Juli taucht hinter dem breiten Hals ihres wirklich eigenem Pferd auf und nickt.
„Der muss mal wieder bewegt werden, nicht wahr, Dicker? Vom ganzen auf der Wiese stehen wirst du noch fett." Sie klopft Picasso auf den Hals und lacht. Ich binde Melody fest und laufe schnell zum Schrank, um den Putzkasten zu organisieren. Juli hat bereits den Striegel in der Unordnung gefunden und fährt über Picassos Fell. Sofort landen die ersten weißen Tierhaare auf ihrem T-Shirt.
Ich trage den Putzkasten zu Melody und nehme ebenfalls die blaue Gummibürste heraus. Immerhin ist diese Kiste sortiert und sieht nicht so aus wie die von Juli.
„Wieso musst du Picasso eigentlich nicht teilen? Ich habe verstanden, er ist kein Schulpferd, denn er steht hier im privaten Bereich, aber werden die anderen Pferde hier etwa von allen geritten nur er nicht?" Das ist mein mehr oder minder armseliger Versuch, ein Gespräch in Gang zu setzen und mehr über Juli zu erfahren. Denn obwohl wir schon ziemlich lange und ziemlich oft aufeinander hängen, weiß ich noch vergleichsweise wenig über sie. Was auch daran liegen wird, dass Juliane nur ungern über sich selbst redet.
Außerdem interessiert mich die Sache mit Picasso wirklich.
Juli antwortet zögernd. „Die Pferde hier im privaten Teil sind meistens einfach Tiere, die sich aufgrund ihres Charakters oder ihrer Ausbildung nicht für den Schulbetrieb eignen, aber für etwas anderes." Sie nickt mit ihrem Kopf in Richtung der ersten Box. Sie ist leer, aber ich weiß, dass dort sonst das große schwarze Pferd steht. „Blacklist ist weder für die Dressur noch für das Springen besonders geeignet, aber er macht sich wahnsinnig gut vor der Kutsche. Außerdem kann er lange still stehen, Hochzeitsfotografen lieben ihn dafür." Juli zeigt mit dem Striegel auf die zweite Box. „Baron ist das Pferd meines Vaters. Er hat großes Dressurpotential, hatte aber immer wieder gesundheitliche Probleme, als er die Chance hatte im Reitsport aufzusteigen." Sie wirft einen Blick die anderen Boxen entlang. „Barcelona dreht mit ihrer Art allen den Arsch auf links, Carthago... Der ist inzwischen zu alt, um noch täglich so beansprucht zu werden. Außerdem tanzt er jedem auf der Nase herum, der nicht Opa oder Vater ist. Und Pearl ist zu wertvoll, um da Schüler drauf zu lassen." Sie zupft einzelne Haare aus der Bürste.
„Und was hat das jetzt mit Picasso zu tun?", frage ich und wechsle die Seite, um dort ebenfalls den Dreck runter zu bürsten.
„Alle die Pferde, die hier stehen, brauchen aber trotzdem Bewegung. Dafür sind meistens Kilian, Eva oder ich zuständig. Opa nimmt ab und zu auch die Kutsche, damit Barcá und Blacklist nicht aus der Übung kommen. Manchmal dürfen auch einzelne Schüler oder Ferienkinder sich um eines der Tiere kümmern, aber das nur in Ausnahmefällen. Vater ist mehr so der Mann für das Theoretische geworden, er kümmert sich um die Zahlen und weniger um die Pferde." Sie bürstet kräftig über den Hintern von Picasso. „Die Pferde hier haben keinen festen Reiter. Bei Picasso und mir ist das anders. Er ist mein Pferd, zwar nicht offiziell, aber ich kümmere mich um ihn, reite und beschäftige ihn und bilde ihn auch weiter aus. Das ist bei Kilian und Abacano so ähnlich, allerdings hat das auch turniertechnische Gründe." Ich widme mich Melodys Hals.
„Oh, okay. Das klingt weniger romantisch, als ich erwartet hatte." Juliane lacht.
„Was hattest du denn erwartet?", fragt sie und wechselt ebenfalls die Seite von Picasso. Wir stehen nun Rücken an Rücken.
„Ich weiß nicht, ich hatte mehr so gedacht, du hättest ihn irgendwie gerettet und er vertraut nur dir und an Sommerabenden galoppiert ihr mit wehendem Haar in den Sonnenuntergang." Juli lacht und ich stimme mit ein.
„So ist das ganz bestimmt nicht. Pic mag zwar nicht alle Menschen, aber an sich vertraut er schon auch anderen und lässt sich von denen reiten, solange er sie zumindest vorher kurz kennengelernt hat. Dabei kann auch ein Bestechungsleckerli helfen." Sie wirft mir einen Blick über die Schulter zu und grinst. Dann beginnt sie zu erzählen. „Picasso ist eigentlich mehr oder weniger zufällig zu uns gekommen. Seine Mutter, Persephone aus dem Rosenfelde, hatten Opa und Vater kurz zuvor an ein junges Ehepaar mit schon zwei anderen Pferden verkauft. Sie haben einen kleinen Bauernhof in Ziegelhof bei Reichenbach. Sie haben Persephone dann decken lassen und haben meine Familie um Rat gebeten. Meine Eltern und Opa sind regelmäßig hin und haben mit dem Ehepaar gesprochen und alles." Ich habe Melodys andere Seite nun auch fertig und nehme mir die Wurzelbürste. „Ich war damals fünf Jahre alt. Sie haben mich manchmal mitgenommen. Ich fand das damals alles furchtbar aufregend mit dem Fohlen." Ich höre das Grinsen in ihrer Stimme. „Irgendwann ist dann der kleine Picasso ins Stroh geplumpst. Nicht wahr, Dicker? An einem Sonntag im April." Picasso schnaubt zustimmend. „Das war auch das Frühjahr in dem ich Fahrrad fahren gelernt habe. Ich habe jeden Tag meine ganze Familie angebettelt, dass wir nach Ziegelhof fahren, weil ich unbedingt nach diesem kleinen Pferd sehen wollte. Am Anfang sind meine Eltern oder Opa auch immer noch regelmäßig hin, weil die Besitzer noch Fragen hatten, aber irgendwann brauchten sie die Hilfe einfach nicht mehr so viel und wir sind seltener hin. Ich habe es kaum ausgehalten, ich wollte Picasso unbedingt sehen. Ich habe ihn schon damals geliebt, dieses kleine drahtbeinige Etwas. Meine Mutter hat dann gesagt, wenn ich da hin will, soll ich das alleine. Also habe ich Kilian dazu gedrängt mir Fahrrad fahren beizubringen. Er konnte es da selbst noch nicht so gut, aber es hat irgendwie funktioniert." Das ist das erste Mal, dass ich Juli von ihrer Mutter reden höre. Ich merke, wie sich in meiner Magengrube ein kleiner Knoten bildet. Aber sie weiß ja noch nicht, dass ich Bescheid weiß. Ist vielleicht auch besser so. „Und dann bin ich fast jeden Tag zwanzig Minuten nach Ziegelhof hin und wieder zwanzig Minuten zurück, nur um das Fohlen zu sehen."
„Allein?" Ich stehe verwundert auf. Es kommt mir etwas seltsam vor, eine Vorschülerin auf ein Rad zu setzen und sie völlig alleine durch die Landschaft gurken zu lassen.
„Nein, natürlich nicht. Oma oder einer unserer Hofarbeiter haben mich dann begleitet, später auch Kilian." Sie wechselt nun auch zur Wurzelbürste. „So sind Picasso und ich Stück für Stück miteinander aufgewachsen. Ich habe mit ihm zusammen Mittagschläfchen auf der Weide gemacht und mit ihm gespielt und durfte auch helfen, ihm das Halfter anzugewöhnen. Er wurde immer größer und es wurde auch deutlicher, dass er irgendwann mal ausschimmelt. Mit drei Jahren kam er dann auf den Hof zur Ausbildung und ich habe es geliebt. Ich musste nicht mehr ständig zu ihm hin radeln und hatte Pic direkt in meiner Nähe. Ich habe zugesehen, wie Mutti und Vater ein richtiges Reitpferd aus ihm gemacht haben. Zwischendurch war er dann wieder in Ziegelhof, aber mit fünf kam er für ein paar Monate für den letzten Teil seiner Ausbildung zu uns. Ich war da zehn." Sie schweigt einen Moment nachdenklich. „Dann war seine Ausbildung abgeschlossen. Er ist zu seinen Besitzern zurück und ich bin auf die weiterführende Schule. Ich hatte weniger Zeit und habe ihn kaum noch gesehen. Dann haben die Besitzer uns erzählt, dass sie ihn verkaufen wollen und ich war am Boden zerstört." Sie kniet sich hin, um sich um Picassos Fesseln zu kümmern. Wir schauen uns unter den Pferdebäuchen hindurch an. „Hinter meinem Rücken hat meine Familie dann mit den Besitzern geredet und die hatten tatsächlich auch die Idee gehabt. Und eines Tages kam ich aus der Schule und sollte mit Opa die Pferde von der Wiese holen. Zuerst habe ich gedacht, die wollen mich verarschen, ich kam gerade von der Schule und sie haben nichts Besseres zu tun, als mich die Pferde holen zu lassen." Wir beide kichern. „Doch dann gehe ich auf die Weide und die Pferde kommen zu mir und ganz vorne Picasso. Meine Eltern und Oma haben dann schon dort auf mich gewartet und ich habe geheult wie ein Schlosshund, einfach weil ich so glücklich war." Sie strahlt und ich grinse.
„Das kann ich mir vorstellen." Juli nickt.
„Seitdem sind wir beide unzertrennlich." Sie steht wieder auf, um das Bein zu wechseln. Wir schweigen eine Weile und putzen weiter unsere Reittiere. Doch plötzlich fügt Juli ihrer Erzählung noch etwas hinzu. „Manche behaupten, jeder Reiter hat ein Seelenpferd. Wenn man dem begegnet, weiß man es sofort und man erreicht mit diesem Pferd mehr, als mit jedem anderen. Ich glaube, Picasso ist mein Seelenpferd." Das ist das erste Mal, dass ich etwas von Seelenpferden höre.

Aufstehen, Setzen, Aufstehen, Setzen, Aufstehen, Setzen...
„Du musst dich mehr auf deinen Rhythmus konzentrieren, Brook! Und nicht zu weit raus, sonst dauert es mit dem Hinsetzen zu lange." Ich verdrehe die Augen, pariere Melody durch in den Schritt und lehne mich etwas zurück.
„Können wir nicht eine kurze Pause machen?" Juli zieht im Trab an mit vorbei, dreht eine Runde in der Ecke des Platzes und reitet dann weiter an der Außenseite des Platzes entlang.
„Weitermachen! Komm gar nicht erst auf die Idee, Pause zu machen. Sonst lernst du es nie." Stöhnend treibe ich Melody wieder an und sie wechselt zurück in den Trab. Ich versuche den Rhythmus zu übernehmen, aber ich bin einfach nicht mehr bei der Sache und gerate immer wieder raus. Sofort setze ich mich wieder hin und bremse das Pony.
„Das macht keinen Sinn!" Genervt lenke ich Melody in die Mitte der Halle und lasse sie stehen. Ich springe aus dem Sattel.
„Was glaubst du, was du da tust?", ruft Juliane von der anderen Seite und treibt Picasso auf mich zu. Kurz vor mir kommen sie zum Stehen. „Steig wieder auf, Brook! So wird das garantiert nichts, wenn du jetzt sofort aufgibst." Auch sie springt von Picasso und schaut mich fassungslos an. „Hast du keine Lust mehr auf das Reiten, oder was? Willst du jetzt gleich komplett aufhören?"
„Es läuft heute einfach nicht, Juli!", verteidige ich mich. Natürlich habe ich nicht vor, das Reiten aufzugeben. Das bin ich Juli und auch Melody und Flashlight schuldig. „Ich bekomme das mit dem Trab nicht auf die Reihe und mein Sitz wird auch nicht besser." Ich schiebe Melodys Kopf beiseite, als sie versucht, sich Streicheleinheiten zu erschleichen.
„Du musst einfach weiter üben. Du kannst nicht einfach aufhören, nur weil gerade ein Scheißtag ist. Dann erst recht nicht. Gerade da muss man dann dran bleiben." Sie drückt mir nachdrücklich wieder Melodys Zügel in die Hand. Als ich nicht antworte, steigt sie wieder auf Picasso und lenkt ihn auf die Außenwand des Platzes zu. Ich bleibe in der Mitte stehen.
Picasso trabt an und ohne Probleme nimmt Juli den Rhythmus auf. Dann wechselt sie die Richtung und damit auch ihren Rhythmus. Verdammte Angeberin.
„Nur weil das bei dir immer so leicht aussieht, heißt das noch lange nicht, dass ich es auch sofort kann, nur weil ich dir zugeguckt habe!", rufe ich ihr zu und hoffe, dass sie mich gehört hat. Ich steige widerwillig wieder in den Sattel und nehme die Zügel kürzer. „Komm, Melody, dann probieren wir es eben noch einmal..." Auf einen kurzen Schenkeldruck hin, setzt sich das Pony wieder in Bewegung und ich versuche sie auf dem zweiten Hufschlag zu halten. Einige von den Bahnregeln habe ich inzwischen schon so weit verstanden, dass ich mich mit Melody immer weiter entfernt von der Holzwand aufhalte. Irgendwas wegen Unfallgefahr.
Juliane wirft einen kurzen Blick zu mir und fängt dann an mit Picasso zu galoppieren. Aus dem Augenwinkel beobachte ich sie. Die beiden scheinen wie füreinander geschaffen. Juli zieht schließlich an der äußeren Seite an mir vorbei.
„Dein Sitz ist zu lasch. Mach den Rücken gerade." Ich verdrehe die Augen, bemühe mich dennoch meinen Rücken in die Senkrechte zu zwingen. Dann lasse ich Melody wieder traben und versuche ihren Rhythmus aufzunehmen. Einige Meter klappt es, dann komme ich wieder raus. Frustriert beiße ich mir auf die Unterlippe. Ich schiele runter zu Melodys Vorderbein und beginne wieder in Gedanken mitzuzählen.
Aufstehen, Setzen, Aufstehen, Setzen, Aufstehen, Setzen...
„Wird doch!", lobt Juli, die mir im Trab entgegen kommt und wieder an mir vorbei zieht. Na toll, jetzt bin ich wieder draußen. Ich stöhne auf.
„Ich kann wirklich nicht mehr, Juli. Können wir nicht endlich aufhören. Wir müssen auch noch Mathe machen!" Melody wird wieder langsamer und konzentriere mich darauf, sie nicht noch in eine Wand zu lenken. Juli antwortet nicht. Stattdessen fällt Picasso wieder in den Galopp und beide nähern sich über die lange Seite des Platzes. Dann kommen sie auf mich zu und ich bemerke, wie sie direkt auf meiner Bahn sind. Panisch ziehe ich an Melodys Zügeln und das Pony hält. Doch Juli bringt ihr Pferd ohne Probleme direkt vor mir zum Stehen. Melody und Picasso strecken sich ihre Nasen entgegen. „Du willst also aufgeben?" Der Größenunterschied von Picasso und Melody sorgt dafür, dass Juli auf mich herunter schaut. Oh, welch süße Metapher.
Ich weiche ihren Blicken aus und nicke schließlich. „Das hat alles keinen Zweck mehr heute. Da können wir die Zeit lieber in Mathe investieren, wenn wir Ende der Woche die Klausur schreiben, wie dass ich mich hier Runde um Runde blamiere." Juli verzieht keine Miene. Ich kann ihr nicht ansehen, was sie gerade denkt oder fühlt.
„Wer sagt, dass du dich blamiert hast?", fragt sie und auch ihre Stimme klingt nüchtern. Ich zucke mit den Schultern.
„Ich fühle mich einfach dämlich dabei, okay? Lass uns nicht weiter diskutieren, das zieht das alles nur unnötig in die Länge." Ich steige ab und werfe Melody die Zügel über den Hals. Sie folgt mir ohne Widerworte, als ich den Platz überquere, um zum Metalltor zu kommen. Ich höre das feine Knarzen des Leders und das leise Klimpern der Metallringe und Schnallen, als Juli und Picasso ebenfalls die Verfolgung aufnehmen. Juli überholt mich schließlich. Sie steigt kurz vor dem Tor ab und öffnet es.
„Nur heute. Wenn du das noch einmal versuchst, lasse ich dich bis zum bitteren Ende weiter machen. Verstanden?" Sie schaut mich nicht an, aber ich nicke als Antwort.
„Ich weiß."

Mit Herz und Huf - GefundenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt