22. Erdboden, tu dich auf!

65 6 7
                                    

Stöhnend lasse ich mich auf meinen Platz fallen und werfe meine Tasche auf den Boden. Langsam lasse ich meinen Kopf auf den Tisch sinken.
„Na, Muskelkater?", fragt Juli mit einem selbstverliebten Grinsen und blättert in ihrem Mathebuch herum, um zum letzten Thema zu gelangen.
„Lach nur...", murmle ich in meinen Ärmel und seufze. Heute Morgen bin ich fast gestorben, bei dem Versuch, aufzustehen. Ich bin mir nicht darüber bewusst gewesen, dass der Körper aus so vielen einzelnen Muskeln besteht. Arme, Schultern und der Hintern sind besonders schlimm.
„Ich würde ja behaupten wollen, dass ich dein Leid gerade nicht genieße, aber... Ja, doch schon, ich genieße es." Sie grinst hämisch und kramt ihr Heft hervor, zusammen mit ihrer Stiftesammlung.
„Jaja, was auch immer..." Ich raffe mich auf und hole selbst Block, Mäppchen und das Buch aus meiner Tasche.
„Und wir sind noch nicht mal im Trab geritten...", freut sich Juli und lacht leise. Ich werfe ihr einen bitterbösen Blick zu. Sie verdreht die Augen. „Ach, komm schon. Du weißt, wie ich das meine. Das hört irgendwann auf. Versprochen." Irgendwie kaufe ich ihr das nicht so ganz ab, aber immerhin hat Kilian mir das gestern ebenfalls versichert und bei ihm bin ich mir sicher, dass er mich nicht anlügt. Anders als bei seiner Freundin.
Die Tür wird aufgerissen, die letzten unserer Klasse betreten den Klassenraum, dicht gefolgt von unserem Mathelehrer. Tuschelnd setzen sich alle auf ihre Plätze und räumen die letzten Sachen auf ihre Tische. Herr Gerstengarbe stellt seine Tasche aufs Lehrerpult und setzt sich daneben. Er lässt seine Beine baumeln und sein Blick schweift über uns. Auch Max und Frederik verstummen schließlich und widmen unserem Lehrer die nötige Aufmerksamkeit.
„Geht doch. Seht ihr, ihr werdet besser!" Herr Gerstengarbe hat es sich zur Aufgabe gemacht, uns zu erziehen. Naja, zumindest den Versuch zu starten. Er beginnt nicht mit dem Unterricht, solange noch jemand am Reden ist und ich muss ihm Recht geben, inzwischen dauert es nicht mehr so lang, wie noch zu Beginn des Schuljahres. Da hat er geschlagene 25 Minuten schweigend auf dem Pult gesessen bis irgendjemand von uns gerafft hat, dass er vielleicht unser Lehrer sein könnte. Aber immerhin haben wir es noch erkannt, bevor die Stunde zu Ende gewesen ist. Einige aus der ehemaligen Parallelklasse kannten ihn bereits, hatten sich aber nicht die Mühe gegeben, den Rest über seine schrägen Erziehungsmethoden aufzuklären.
„Also, ich will heute schon mal ansprechen, dass wir heute in zwei Wochen die erste Klausur schreiben werden. Aber das werdet ihr sowieso schon alle auf dem Klausurenplan nachgelesen haben." Er lacht kurz und lehnt sich dann auf dem Pult zurück. Er scheint wie auch schon die letzten Stunden den Tisch gegenüber den kleinen harten Plastikstühlen vorzuziehen.
„Es werden noch ein zwei kleine Themen dazukommen, bevor wir schreiben, deswegen werde ich euch erst sagen, was abgefragt wird, wenn wir das soweit haben. Allerdings will ich, dass ihr euch schon einmal Gedanken darüber macht, was ihr eventuell noch mal üben wollt oder wo ihr Fragen habt. Das sagt ihr mir dann nächste Woche und ich kann Übungsaufgaben vorbereiten. Wenn natürlich bei den neuen Themen auch Probleme auftauchen, ist das kein Grund zu Panik, die kann ich zur Not auch noch mit euch üben. Verstanden?" Allgemeines Nicken. Ich lasse meinen Stift über meinen Block kreisen und hoffe, dass die leichten Schmerzen in den Fingergelenken heute noch nachlassen.
„Dann schlagt bitte die Seite 127 auf, damit wir das gestrige Thema fertig machen können. Ihr hattet ja die Aufgabe 3 auf und ich hätte gern mal die Lösungen genannt. Also, wer will anfangen?" Unser Lehrer hat ebenfalls seine Blättersammlung aus seiner Tasche organisiert und schwingt sich vom Tisch, um an der Tafel mitzuschreiben. Ich blättere mein Buch auf und suche nach Seite 127.
Die Aufgabe 3 hatte ich gestern mit Juli gemacht und war von ihrer Leistung überrascht gewesen. Sie hatte nicht einmal von mir abgeschrieben. Natürlich schießt ihre Hand neben mir in die Höhe.
„Juli?" Herr Gerstengarbe scheint überrascht über Julianes Unterrichtsbeteiligung zu sein.
„Ich würde die 3 a vorlesen", bietet Juli an und rückt etwas nervös ihr Matheheft zurecht. „Als Punkte sind angegeben Punkt P mit den Koordinaten (15|29) und Punkt Q mit den Koordinaten (65|13), wegen den weiteren 50 Minuten. M ist gleich -0,32 und wenn man dann den ersten Punkt einsetzt, bekommt man als y-Achsenabschnitt n 33,8 heraus. Damit lautet die Funktionsgleichung f(x)=-0,32x+33,8." Sichtlich stolz mit sich selbst lehnt Juli sich wieder in ihrem Platz zurück. Ein kurzes Grinsen huscht über ihr Gesicht.
„Alles richtig. Da habe ich nichts mehr hinzuzufügen." Herr Gerstengarbe nickt anerkennend und schreibt die von Juli genannte Funktionsgleichung an die Tafel. „So, wer hat die b?" Ich höre nicht wirklich zu, wer sich erbarmt, den zweiten Teil der Aufgabe zu lösen, sondern starre Juli nur an. Ich kann es nicht verhindern zu lächeln.
„Gut gemacht", flüstere ich ihr zu und sie strahlt mich kurz an, bevor sie sich wieder dem Unterricht zuwendet.
Nachdem auch die restlichen Teilaufgaben der Nummer 3 gelöst sind und an der Tafel stehen, kritzelt Herr Gerstengarbe die nächsten Übungsaufgaben dazu an die Tafel. Unter etwas lauterem Gemurmel machen sich alle an die Arbeit. Als sich die Atmosphäre wieder einigermaßen beruhigt hat, kommt Herr Gerstengarbe unvermittelt zu uns und hockt sich vor unseren Tisch. Verwirrt schauen Juli und ich von unseren Büchern auf.
„Juliane, ich möchte kurz anmerken, dass mir deine Arbeitseinstellung der letzten Tage sehr gefällt. Deine Aufgaben sind fast immer richtig, abgesehen von einigen kleinen Flüchtigkeitsfehlern, und deine mündliche Leistung steigert sich von Stunde zu Stunde." Juli schaut unseren Lehrer aus großen Augen an. Ich lege unbemerkt meinen Stift beiseite.
„Deine anderen Lehrer haben gemeint, Mathe wäre nicht so deine Stärke, aber das sehe ich ganz anders", fährt Herr Gerstengarbe fort. „So wie es jetzt aussieht, habe ich große Zuversicht, dass du die Klausur ohne Probleme schreiben wirst. Deine Zeugnisnote wird, so wie ich denke, in den zweistelligen Bereich rutschen, wenn du so weiter machst, ohne Probleme. Also egal, was du seit letztem Jahr anders machst, hör nicht damit auf. Es tut dir echt gut. Weiter so!" Wie ferngesteuert nickt Juli langsam. Lächelnd erhebt sich unser Mathelehrer wieder und durchquert den Klassenraum, um jemandem aus der letzten Reihe zu helfen. Wortlos starrt Juli immer noch vor sich auf die bedruckten Seiten ihres Mathebuches und flüstert leise seine Worte vor sich hin.
„Weiter so..." Ich grinse, nehme meinen Stift wieder in die Hand und stupse damit Juli leicht an. Sie schreckt hoch und mustert mich kurz, als hätte sie vergessen, wo sie wäre.
„Komm, machen wir die Aufgaben, bevor dir das Lob noch zu Kopf steigt", meine ich lachend. Juli streckt mir die Zunge raus und wir beginnen schweigend die Aufgaben zu lösen.

Mit Herz und Huf - GefundenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt