38. Nacht und Nebel

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Ich liege auf meinem Bett, habe mein Gesicht in meinem Kopfkissen vergraben und warte darauf, dass die Welt aufhört, sich zu drehen.
Zuhause habe ich es gerade mal geschafft, mich aus der geliehen Reithose und meinem sandigen Pullover zu schälen, bevor ich mich unter meine Bettdecke verkrochen habe und von dem lang erwarteten Heulkrampf eingeholt worden bin.
Meine Eltern haben schon vor geraumer Zeit aufgegeben, in mein Zimmer zu kommen und ein Gespräch mit mir anzufangen und auch von Luis und Leon höre ich auf dem Flur nichts mehr.
Falk hat nicht gesagt, wen er anruft und wer Flashlight morgen holen wird, doch Julis Reaktion hat es mir deutlich gezeigt und erst hier habe ich die Chance, die ganzen Ereignisse zu sortieren.
In meinem Kopf jagen immer wieder nur zwei Sätze im Kreis.
Es ist deine Schuld. Du hast ihn umgebracht.
Meine Augen brennen, doch ich habe keine Tränen mehr übrig. Ein Phänomen, von dem ich dachte, dass es nur in Büchern passieren kann. Doch ich bin leer. Es ist nichts mehr da.
Ich hätte Juli nie bitten sollen, Flashlight zu helfen und ich hätte ihn niemals unterschätzen sollen. Verdammt, ich hätte niemals spazieren gehen sollen.
Ich ziehe meine Beine noch enger an mich und versinke noch weiter unter meiner Decke.
Es ist unsere Schuld, dass Flashlight das Übermorgen nicht mehr erleben wird.
Mein Handy gibt einen kurzen melodischen Klang von sich, dann ist es wieder still. Ich will die Nachricht gar nicht lesen.
Kurz bevor ich zuhause angekommen bin, habe ich zwei Nachrichten erhalten. Eine von Juli und eine von Kilian. Mit den denkbar schlimmsten Inhalten, den ich in diesem Moment hätte lesen wollen.
Julis Nachricht war nur eine Aneinanderreihung von Wörtern, die für mich erst Sinn ergaben, als ich mich in mein Bett verzogen habe.
SIE HOLEN IHN MORGEN.
Das war's. Keine weitere Erklärung, keine Worte der Beruhigung, nur die nüchterne Wahrheit.
Kilian hat geschrieben, was er bestimmt auch Juli schon erzählt hat.
ES IST NICHT EURE SCHULD.
Ich weiß nicht, wie viel er von dem Streit mitbekommen hat, aber seine Nachricht sagt, dass er bereits weiß, was passiert ist. Obwohl er versucht, uns unser schlechtes Gewissen zu nehmen, beschäftigt mich seine Nachricht kaum. Julis dagegen geistert wie ein Nebel durch meine Gedanken und mischt sich zu den anderen beiden.
Es ist deine Schuld. Du hast ihn umgebracht.
Ich hebe kurz den Kopf und erhasche einen Blick auf meinen Wecker. Es ist noch nicht einmal halb sieben. Ich sinke zurück in die Kissen.
Ich will nicht, dass er getötet wird. Er hat mich nicht verletzt und auch nicht mutwillig angegriffen. Es war ein Unfall. Er und ich, wir haben die Kontrolle verloren. Es war ein Unfall.
Jemand klopft an meine Tür. Ich antworte nicht.
„Brooklyn?" Es ist mein Vater. Knarzend öffnet sich die Zimmertür. Ich höre seine Schritte, dann sinkt meine Matratze an der rechten Seite ein. Ich verkrieche mich tiefer unter der Decke.
„Brooklyn, es gibt gleich Abendessen. Vielleicht willst du ja wenigstens etwas essen." Ich antworte nicht. Papa seufzt.
„Ich weiß nicht, was passiert ist, aber wir können darüber reden, Mäuschen. Wir finden einen Weg, okay?" Ich will auflachen. Welchen Weg denn? Da ist kein Weg. Ich habe Flashlight in eine Sackgasse geschickt. Statt zu lachen, gebe ich einen wimmernden Laut von mir.
Mein Vater steht auf.
„Es gibt immer einen Weg, Brook. Vergiss das nicht." Seine Schritte entfernen sich und hinter ihm zieht er meine Tür wieder zu.
Papa hat vielleicht recht. Es gib viele Wege. Doch hierfür gibt es keinen Ausweg. Diesmal nicht.
Erneut kommt eine Nachricht auf meinem Handy an.
Flashlight darf nicht sterben. Doch wie soll ich das verhindern? Er wird morgen geholt. Das ist zu wenig Zeit, um Falk umzustimmen. Das ist zu wenig Zeit, um ihm zu zeigen, welche Fortschritte Flashlight bereits gemacht hat. Und Geld, um Flashlight zu kaufen, bevor die anderen ihn holen, habe ich nicht.
Da ist kein Weg.
Mein rechter Arm schläft mir ein, doch das ist mir egal. Das eklige Kribbeln ist eine willkommene Abwechslung gegenüber der Taubheit von vorhin.
Es ist deine Schuld. Du hast ihn umgebracht.
Ich kann meine Schuld nie wieder gut machen. Juli wird mich hassen, dafür, dass ich ihr Hoffnung gemacht habe, aus Flashlight könnte noch ein richtiges Reitpferd werden. Ich werde es bei ihr nie wieder gut machen können. Und bei Flashlight sowieso nicht.
Er hat mir vertraut und ich habe ihn enttäuscht. Er wird morgen wieder Angst bekommen, vor den fremden Menschen und vor Falk, der ihn aus seiner Box und über den Hof zerren wird, sodass jeder sehen kann, dass Flashlight gefährlich ist.
Ich sehe immer wieder seine panischen Augen vor mir und höre sein schrilles Wiehern, was mehr einem Schrei gleicht. Er hätte beinahe meine Beine zertrümmert. Die Hufe sind nur knapp daneben auf dem Boden aufgeschlagen.
Ich schließe die Augen.
Doch sie haben mich nicht getroffen. Flashlight hat seinen Körper herumgerissen. Er hat mich gesehen und wollte mich nicht verletzen. Es sah vielleicht so aus, aber er hätte mich niemals verletzt.
Er ist nicht gefährlich. Nicht für mich.
Mir wird warm und ich schäle mich aus meiner Decke. Auf dem Rücken liegend starre aus dem Dachfenster.
Flashlight vertraut mir. Mit mir zusammen kann er sich bessern. Er wird vielleicht sogar seine Angst überwinden, selbst wenn die Chance noch so klein ist. Unter Julis Anleitung kann er zu einem gewöhnlichen Pferd werden. Zusammen können wir es Falk zeigen.
Doch dafür muss Flashlight leben.
Papa hat doch recht. Es gibt immer einen Weg. Und dieser ist völlig verrückt. Allerdings auch Flashlights einzige Chance.
Kurz bin ich dazu hingerissen, nach meinem Handy zu greifen und Juli und Kilian von meiner Idee zu schreiben. Doch das ist zu riskant. Und wenn es schief geht, sollen sie nicht noch mehr Ärger bekommen. Besonders Juli nicht. Sie steckt schon zu tief mit drin. Und wenn Falk ihr Handy eingezogen hat, ist die Gefahr zu groß, dass ich erwischt werde.
Stattdessen stelle ich mir einen Alarm.
Weckzeit 01:30
Das muss reichen. Ich werfe die Decke zurück, wische mir über die Augen, um die letzten Reste der Heulattacke zu verwischen. Dann gehe ich zum Kleiderschrank. Ich werfe einen schwarzen Pullover und meine lange Sporthose auf die aufgewühlte Tagesdecke.
Heute wird der Tag, wo ich Flashlight helfen werde.

Mit Herz und Huf - GefundenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt