Kapitel 34

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Was wäre passiert, wenn Jack nie in die Stadt gezogen wäre, wenn er nicht in meine Klasse gekommen wäre und wenn Isabele Jack nicht betrogen hätte und sie immer noch zusammen wären? Was wäre, wenn Nick's Bruder nie weggegangen wäre? Was wäre, wenn seine Eltern nicht so wortwörtlich scheiße wären? Was wäre, wenn Nick nie probleme gehabt hätte und nie Tobi kennengelernt hätte? Was wäre passiert, wenn auch nur eine Sache anders gelaufen wäre? Würde ich dann auch hier mit diesem Gefühl in mir sitzen, diese Mischung aus wärme, bauchkribbeln und nervosität?

"Hast du angst?" Ich schüttel leicht den Kopf. Jack's Augen forschen in meinem Gesicht, suchend auf ein Hinweis darauf, dass ich lüge. "Ich weiß bloss nicht, auf was ich mich gefass machen muss, soll. Was auch immer. Was ist, wenn der Rest was er zu erzählen hat noch schlimmer ist, als das was er mir gestern gestanden hat? Ich weiß dann nicht was ich machen soll..." "Hey." Vorsichtig nimmt er meine Hände in seine und drückt sie leicht. "Schau mir in die Augen." Ich befolge seinem Befehl und schaue mit tränenden Augen in seine. "Egal, was er noch zu sagen hat, oder wie sehr es dir wehtut. Ich bin für dich da. Ich bin hier. Ich werde nicht gehen. Ich werde hier sein und dich in den Arm nehmen und dich trösten und mein bestes geben um dich wieder aufzumuntern, denn egal, wie schlimm es noch wird. Ich bin da und werde dir helfen. Ich liebe dich." Ich glaube ihm, jedes einzelne Wort. Noch ein letztes mal lasse ich mich von ihm in den Arm nehmen, bevor ich den Wagen verlasse und auf die Klinik steuere.

Dieses mal klopfe ich nicht an. Ich betrete einfach das Zimmer und erblicke auf anhieb Nick, der auf dem Bett sitzt und etwas in ein kleines Buch schreibt. Als er mich bemerkt, hört er sofort auf, klappt das Notizheft zu und verstaut es unter seinem Kopfkissen. "Oh Liv." Man sieht ihm an, dass er nicht mehr mit mir gerechnet hat. Langsam schließe ich die Tür hinter mir, schiebe den Stuhl, der an der Wand steht zum Bett und setze mich genau gegenüber von ihm hin. "Bevor du irgendwas sagst, ich bin eigentlich nur hier, weil ich endlich alles wissen möchte. Und das von dir." Nick nickt leicht und versucht ganz eindeutig erstmal seine Gedanken zu sortieren. "Ehm.. Wo soll ich anfangen..." "Naja, dass meiste hast du mir ja schon gestern erzählt. Zumindest denke ich mal das es das Meiste war." "Ja. Ja, es war das meiste.", sagt er schnell. "Ok, dann fang doch damit an, was du Amanda angetan hast, oder Tim." Er beißt sich auf die Unterlippe und ich weiß, dass er nicht darüber reden will, aber jetzt geht es nun mal nicht anders. Wut steigt langsam in mir hoch. "Willst du jetzt anfangen, oder" Er unterbricht mich mitten im Satz. "Tim wollte was von Amanda. Also eigentlich war er total in sie verknallt und ich wusste es, aber trotzdem hatte ich sozusagen eine Affäre mit ihr, doch im gegensatz zu ihr, war es für mich nichts ernstes. Ich habe sie ausgenutzt." Kurz muss ich überlegen, ob ich alles richtig verstanden habe, denn er hat es alles so schnell gesagt, dass er sich beinahe verschluckt hätte. Ich lasse mich wieder auf den Sitz fallen und starre Nick wortlos und mit offenem mund an. Nur ein kleines "Oh." entfällt mir. "Ich weiß, dass ein Freund sowas nicht tun sollte, aber Tobi's Einstellung auf die Welt und alles hatte zu dieser Zeit auf mich abgefärbt und ich dachte, dass ich machen könnte was ich wollte. Jede Nacht eine andere. Irgendwann hatte ich dann sozusagen alle, auf die ich jemals ein Auge geworfen hatte, außer Amanda. Mir war zu diesem Zeitpunkt schon bewusst, dass Tim sie wirklich mag, aber das war mir egal. Er war mir egal. Ich hatte Tobi als Freund und das reichte mir, mehr bräuchte ich nicht, dachte ich. Ich hab angefangen mich mit ihr zu treffen. Hab einen auf verliebt gemacht und es dauerte nicht lange, bis sie in mich verknallt war. Sie vertraute mir und das habe ich ausgenutzt. Nach zwei wochen erfuhr es Tim und hielt erstmal abstand von mir, was mich kein bisschen juckte. Naja, wie schon gesagt, hatte ich nie wirklich Gefühle für Amanda und so kam es dann, dass ich auf einer Party was mit einer anderen hatte und Amanda hatte es gesehen und mich zur Rede gestellt und ich hatte ihr dann die Wahrheit erzählt. Also, dass es für mich nie etwas ernstes war. Daraufhin war sie lange, wirklich sehr lange sauer auf mich. Und ich denke, sie ist insgeheim immer noch sauer auf mich, und hat mir noch nicht ganz verziehen. Dann verschwand Tobi und ich sah ein, was ich für einen Mist gebaut hatte. Ich versuchte alles wieder zu regeln und habe mich bei beiden entschuldigt und ihnen alles erzählt. Beide haben mir verziehen, selbst wenn es seitdem nicht mehr so ist, wie es früher war. Aber ich bin froh, dass ich sie überhaupt wieder habe... So, dass war's so ziemlich." "Du hast wirklich alles auf's Spiel gesetzt und das für was? Für Tobi? Um dich gut und frei zu fühlen?" Ich bin vollkommen entsetzt und kann es nicht fassen oder verstehen, wie Nick das machen konnte. "Mir ist schon klar, was du gerade von mir denkst und ich kann es voll und ganz verstehen." "Nick, verdammt." Ich setze mich vom Stuhl auf und muss erstmal nachdenken, alles etwas sicken lassen. Denn alles was ich von Nick dachte, bricht ein wie ein altes Gebäude. "Ich liebe dich." Auf anhieb drehe ich mich zu ihm um und schaue ihn an, suche in seinem Gesicht nach etwas, was mir sagt, dass es nur ein schlechter Witz ist. Suche nach einem Lächeln, eine hochgezogene Augenbraue, irgendwas was ihn verraten könnte. Doch sein Gesicht ist emotionslos. Bloss seine Augen starren mich an. Und ich sehe in ihnen etwas, was ich schon in Jack's Augen gesehen habe. Was ich auf den Bildern von meinen Eltern gesehen habe. Plötzlich ist mein Mund so trocken, dass ich kein Wort rausbringe. Ich kann mich weder bewegen noch irgendwas erwidern. "Ich habe dich so geliebt und tue es immernoch. Alles was ich wollte war mit dir zusammen zu sein, doch für dich war ich immer nur dein bester Freund. Der kleine Nick, dem du alles erzählen konntest, mit dem du alles machen konntest. Doch ich hatte es irgendwann satt. Es tat weh. Es tut immer noch höhlisch weh. Ich war für dich nie eine Wahl, doch für mich warst du alles, was ich je wollte. Deswegen hatte ich die Kontrolle von meinem Leben verloren. Und dann hast du dich auf Tobi eingelassen und es ist alles in mir eskaliert. Und dann als er ging, dachte ich, meine Chance wäre endlich gekommen und dann kam Jack und zufällig auch Tobi wieder, was mir nützlich vorkam. Tobi würde mir helfen dich von jack fernzuhalten, doch es ging alles nach hinten los, mal wieder. Und ich konnte und wollte einfach nicht mehr. Auf einer Seite weiß ich, dass es alles falsch war, doch auf der anderen Seite bin ich mir sicher, dass ich wieder so handeln würde." "Du steckst in dieser Sache mit drin? Das mit Jack und Tobi und seinen Erpressungen und dem Angriff auf Jack?" "Ich wollte nicht, dass Tobi ihm so doll weh tut. Und ich wusste nicht, dass Tobi wirklich gefühle für dich hat." Meine Augen füllen sich mit tränen, doch ich wische sie schnell weg und schaue auf Nick herab. Er sitzt dort so mitleiderregend und ich weiß nicht, was ich denken, noch fühlen soll, also spreche ich das aus, was ich für richtig halte. "Weißt du, du machst dich kaputt, machst für mich alles kaputt und das weil du denkst mich zu lieben. Doch, dass ist keine Liebe. Ich denke du hast dich und wer du wirklich bist in deiner Verzweiflung verloren. Deswegen bin ich dir nicht sauer, denn alles was du getan hast, hat dazu geführt, dass ich jetzt Jack habe mit dem ich glücklich bin. Ich bereue nichts und das solltest du auch nicht mehr tun. Vergiss mich und all die Dinge die passiert sind. Du hast daraus gelernt, ich hoffe es zumindest, und jetzt lebe weiter. Selbst Tobi hat es jetzt eingesehen, er lebt jetzt auch weiter und schaut nach vorne, dass solltest du auch tun. Ich wünsche dir viel Glück und Erfolg dabei. Lebwohl Nick." Ich mache auf Absatz kehrt und verlasse den Raum, als Nick mich am Arm festhält. Ich habe gar nicht gemerkt, dass er aufgestanden ist. "Ist das ein Abschied, für immer?" Ich schlucke. "Ja. Du bist besser ohne mich dran. Wenn man genauer hinsieht ist nicht Tobi's Freundschaft mit dir daran schuld, sondern deine Gefühle für mich. Deswegen denke ich, dass es besser ist, wenn... das mit uns klappt nicht und es wird nicht mehr klappen. Ich liebe dich wirklich, aber nur als Freund." Sein griff um meinen Arm wird lockerer, bis er seine Hand ganz fallen lässt. "Okay." Auch wenn ich ihn am liebsten in den Arm nehmen möchte und es noch mal mit der Freundschaft versuchen will, kann ich nicht. Ich weiß, dass es so jetzt richtig ist und ich weiß, dass er es insgeheim, tief in sich, auch weiß. Deswegen, denke ich, lässt er mich jetzt auch ohne ein weiteres Wort gehen.

Als ich in das Auto steige, sagt weder Jack noch ich etwas. Wir sitzen einfach nur da und lauschen der Musik. Nach einer Zeit lang startet Jack den Wagen und fährt Ziellos durch die Gegend, bis ich ihn zu einem bestimmten Ort navigiere. Er steigt als erstes aus und ich warte, bis er an meiner Seite angekommen ist und mir die Tür aufhält. Ohne ein Wort nehme ich seine Hand und führe ihn zum Ufer des Sees. Wir sitzen auf dem weichen Rasen. Berühren uns nicht, während ich ihm alles erzähle. Satz für Satz. Als ich zuende erzählt habe, sagt er nichts. Er nimmt schlicht meine Hand und ich bin glücklich über diese Geste. Sie sagt mir mehr als tausend Worte es je könnten. Du hast das richtige getan. Ich bin stolz auf dich. Ich bin für dich da. Ich liebe dich. All dies, sagt mir diese kleine Geste und ich könnte nicht glücklicher und zufriedener sein, als jetzt in diesem Moment. "Ich liebe dich", flüstere ich leise. Ich sage es zu meiner Mutter, mit der ich immer hier beim See war. Ich sage es zu meinem Vater, zu Finn. Zu Tim und Amanda und Nick, meinen besten Freunden. Ich sage es zu Tobi. Doch vor allem sage ich es zu Jack.

Im Endeffekt, bin ich froh wie alles geendet hat, selbst wenn es kein Happy End für alle ist, selbst wenn es noch so viele Probleme gibt und das jetzt erst der Anfang vom Leben ist. Ich bereue nichts, obwohl alles noch offen ist und in den Sternen steht.

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