Kapitel 6

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3. Person PoV.

Es fiel Regen in dieser Nacht, ein feiner, wispernder Regen. Noch viele Jahre später musste Luna bloß die Augen schließen und schon hörte sie ihn, wie winzige Finger, die gegen die Scheibe klopften. Irgendwo in der Dunkelheit bellte ein Hund, und Luna konnte nicht schlafen, so oft sie sich auch von einer Seite auf die andere drehte.

Unter ihrem Kissen lag das Buch, in dem sie gelesen hatte. Es drückte den Einband gegen ihr Ohr, als wollte es sie wieder zwischen seine bedruckten Seiten locken. "Oh, das ist bestimmt sehr bequem, so ein eckiges, hartes Ding unterm Kopf", hatte ihr Vater gesagt, als er zum ersten Mal ein Buch unter ihrem Kissen entdeckte. "Gib zu, es flüstert dir nachts seine Geschichte ins Ohr." - "Manchmal!", hatte Luna geantwortet. "Aber es funktioniert nur bei Kindern." Dafür hatte Tobias sie in die Nase gezwickt. Tobias. Luna hatte ihren Vater früher so genannt.
In jener Nacht - mit der so vieles begann und so vieles sich für alle Zeit änderte - lag eins von Luna's Lieblingsbüchern unter ihrem Kissen, und als der Regen sie nicht schlafen ließ, setzte sie sich auf, rieb sich die Müdigkeit aus den Augen und zog das Buch unter dem Kissen hervor. Die Seiten raschelten verheißungsvoll, als sie es aufschlug. Luna fand, dass dieses erste Flüstern bei jedem Buch etwas anders klang, je nachdem, ob sie schon wusste, was es ihr erzählen würde, oder nicht. Aber jetzt musste erst einmal Licht her. In der Schublade ihres Nachttisches hatte sie eine Schachtel Streichhölzer versteckt. Luna liebte es, bei Kerzenlicht zu lesen. Drei Windlichter und drei Leuchter hatte sie auf dem Fensterbrett stehen. Sie hielt das brennende Streichholz gerade an einen der schwarzen Dochte, als sie draußen die Schritte hörte. Erschrocken pustete sie das Streichholz aus - wie genau sie sich viele Jahre später noch daran erinnerte! -, kniete sich vor das regennasse Fenster und blickte hinaus. Und da sah sie ihn.
Die Dunkelheit war blass vom Regen und der Fremde war kaum mehr als ein Schatten. Nur sein Gesicht leuchtete zu Luna herüber. Das Haar klebte ihm auf der nassen Stirn. Der Regen triefte auf ihn herab, aber er beachtete ihn nicht. Reglos stand er da, die Arme um die Brust geschlungen, als wollte er sich wenigstens auf diese Weise etwas wärmen. So starrte er zu ihrem Haus herüber.

Ich muss Lukas holen!, dachte Luna. Aber sie blieb sitzen, mit klopfendem Herzen, und starrte weiter hinaus in die Nacht, als hätte der Fremde sie angesteckt mit seiner Reglosigkeit. Sie hätte auch Thomas geweckt, nur war dieser nicht da. Plötzlich drehte er den Kopf und Luna schien es, als blickte er ihr direkt in die Augen. Sie rutschte so hastig aus dem Bett, dass das aufgeschlagene Buch zu Boden fiel. Barfuß lief sie los, hinaus auf den dunklen Flur. In dem alten Haus war es kühl, obwohl es schon Ende Juli war.
In Lukas Zimmer brannte noch Licht. Er war oft bis tief in die Nacht wach und las. Die Bücherleidenschaft hatten sie gemeinsam. Nichts verscheuchte böse Träume schneller als das Rascheln von bedrucktem Papier.
Aber die Gestalt vor dem Haus war kein Traum.
Das Buch, in dem Lukas in dieser Nacht las, hatte einen Einband aus blassblauem Leinen. Auch daran erinnerte Luna sich später. Was für unwichtige Dinge im Gedächtnis kleben bleiben!
"Lukas, vor dem Haus steht jemand!"
Ihr Bruder hob den Kopf und blickte sie abwesend an, wie immer, wenn sie ihn beim Lesen unterbrach. Es dauerte jedes Mal ein paar Augenblicke, bis er zurückfand aus der anderen Welt, aus dem Labyrinth der Buchstaben.
"Da steht einer? Bist du sicher?"
"Ja. Er starrt unser Haus an."
Lukas legte das Buch weg. "Was hast du vorm Schlafen gelesen? Dr. Jekyll und Mr Hyde?"
Luna runzelte die Stirn. "Bitte, Lukas! Komm mit."
Er glaubte ihr nicht, aber er folgte ihr. Luna zerrte ihn so ungeduldig hinter sich her, dass er sich auf dem Flur die Zehen an einem Stapel Bücher stieß. Woran auch sonst? Überall in ihrem Haus stapelten sich Bücher und manchmal stolperte man über sie. "Er steht einfach nur da!", flüsterte Luna, während sie Lukas in ihr Zimmer zog.
"Hat er ein Pelzgesicht? Dann könnte es ein Werwolf sein."
"Hör auf!" Luna sah ihn streng an, obwohl seine Scherze ihre Angst vertrieben. Fast glaubte sie schon selbst nicht mehr an die Gestalt im Regen ... bis sie wieder vor ihrem Fenster kniete. "Da! Siehst du ihn?", flüsterte sie.
Lukas blickte hinaus, durch die immer noch rinnenden Regentropfen, und sagte nichts.
"Hast du nicht geschworen, zu uns kommt nie ein Einbrecher, weil es nichts zu stehlen gibt?", flüsterte Luna.
"Das ist kein Einbrecher", antwortete Lukas, aber sein Gesicht war so ernst, als er vom Fenster zurücktrat, dass Luna's Herz nur noch schneller klopfte. "Geh ins Bett, Luna", sagte er. "Der Besuch ist für mich."

Born to killWo Geschichten leben. Entdecke jetzt