Kapitel 2 - Die Neue

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Der Wecker bimmelte und riss mich aus dem Schlaf. Ich war gestern früh eingeschlafen und auch nicht mehr aufgewacht. Langsam quälte ich mich aus dem Bett und riss meinen Kleiderschrank auf. Ich nahm einfach das erst Beste was mir zwischen die Finger kam und schlenderte ins Bad. Dort stellte ich mich schnell unter die Dusche und zog mich danach an. Meine braunen Haare band ich zu einem Zopf zusammen und befestigte ich mit Haarnadeln. Danach schminkte ich mich und ging in mein Zimmer. Ich trug ein blaues Shirt und eine weiße Hotpants. Schnell schnappte ich mir meinen Rucksack und ging die Treppe hinunter. Derek, Finn und Eren saßen schon am Tisch. John war arbeiten und Mama war zu einem Vorstellungsgespräch gefahren. Kira kam gleichzeitig mit mir in die Küche. Ich murmelte ein Morgen und ließ mich neben Finn auf einen Stuhl plumpsen.
„Wow, so freundlich heute?“, stellte er grinsend fest. Als er merkte, dass ich nicht antworten würde, fügte er hinzu. „Du weißt, wer hier noch wohnt?“
„Ja. Lucas.“
„Halt dich von ihm fern.“
„Danke, Schlaumeier.“
„Ich meins ernst.“, fügte Finn scharf hinzu.
„Ich auch.“, erwiderte ich im gleichen Tonfall.
„Was ist mit Lucas?“ fragte Kira. 
„Er ist ein Idiot.“, sagte ich. Finn sagte nichts, doch Kira zog verwundert die Augenbrauen hoch. Nach dem Frühstück liefen Kira und ich zur Bushaltestelle. Derek, Finn und Eren fuhren mit Freunden von Derek mit. „Nervös?“ Kira schaute mich an. „Ein bisschen.“, gab ich zu. Aber das war völlig untertrieben. Ich war wahnsinnig nervös und würde am liebsten noch zu Hause bleiben. 
„Keine Sorge. So schlimm ist es nicht. Ich stell dir gleich ein paar Freundinnen von mir vor.“ Eine Zeitlang sagte niemand was, als Kira das Schweigen brach. „Was läuft zwischen dir und Lucas?“, platzte sie heraus. War ja klar, dass das kommen würde.
„Nicht der Rede wert.“, meinte ich lustlos und unterstrich meine Worte mit einer Geste. Kira wollte noch etwas sagen, doch sie wurde von einem Mädchen mit lockigem, dunklem Haar unterbrochen. Das Mädchen war genauso hübsch gekleidet wie Kira. Sie trug eine türkise Bluse und einen schwar-zen Rock. Goldene Ohrringe baumelten von ihren Ohren und ihre Füße steckten in schwarzen Ballerinas. Sie fiel Kira um den Hals, als hätte sie sie seit zehn Monaten nicht mehr gesehen. Normalerweise würde ich sie für völlig verrückt und eingebildet abstempeln und weitergehen, doch etwas an ihrer Art brachte mich zum Lächeln. 
„Hey, Dawn.“, quietschte Kira. „Ich möchte dir jemanden vorstellen. Das ist Lydia, die Tochter von Elizabeth. Ich hab dir doch schon von ihr erzählt, oder?“
„Ja, klar. Hallo Lydia, ich bin Dawn.“, antwortete Dawn uns schenkte mir ein Lächeln. Ich grinste zurück und begrüßte sie ebenfalls. Im nächsten Moment kam der Bus um die Ecke und wir stiegen gemeinsam ein. Dawn und Kira gingen in den hinteren Teil des Buses und setzten sich zu einem Mädchen mit feuerroten Locken. Zögernd folgte ich den beiden und setzte mich neben Kira. Kira stellte mir das Mädchen als Anabel vor. Anabel, Dawn und Kira unterhielten sich die ganze Busfahrt lang, doch ich wollte noch die letzten Minuten genießen, bevor mein Albtraum begann und steckte mir meine Kopfhörer in die Ohren und drehte die Musik auf volle Lautstärke.

Eine halbe Stunde später stiegen wir gemeinsam aus und betraten den Schulhof. Finn stieg gerade ebenfalls aus dem Auto und winkte mir kurz zu. Ich winkte ihm zurück und drehte mich zu Anabel. „Ist das dein Bruder? Der ist total-“
„heiß.“, beendete Dawn Anabels Satz, welche einen zustimmenden Laut von sich gab und sabbernd meinem Bruder hinterher. Kira schnippte vor ihren Gesichtern mit den Fingern und meinte: „Leute! Ich geh schnell mit Lydia ins Sekretariat. Wir treffen uns dann in der Klasse, ok?“ Dawn und Anabel nickten und verschwanden zu einer Gruppe von Schülern. 
„Danke das du mich begleitest.“, sagte ich zu Kira. Diese grinste.
„Kein Problem. Dafür sind Schwestern doch da, oder? Lydia, kann ich dich mal was fragen?“
„Ja klar.“, antwortete ich gelassen.
„Wie ist dein Vater gestorben?“ Kira schaute verlegen auf den Boden.
„Bei einem Autounfall. Als ich noch kleiner war, wollten wir zwei einen Ausflug machen. Auf der Autobahn ist dann ein LKW ins Schleudern geraten und in uns hineingefahren.“ Ich schaute traurig zur Seite und blinzelte die Tränen fort. Ich konnte mich noch genau an diesen Tag erinnern. Mein Vater und ich wollten in einen Vergnügungspark fahren. Während der Fahrt fragte er mich, mit was ich alles fahren wolle, wenn wir dort sind. Ich kam aus dem aufzählen gar nicht mehr heraus. Karussell, Riesenrad, Achterbahn, Autoskooter. Ich wollte zum Schießstand und Zuckerwatte essen. Wir fingen beide zu lachen an als plötzlich der LKW in uns hineinraste. Papa war sofort tot, und ich hatte eine riesige Glassterbe in meinem Bauch stecken und seitdem auch eine riesige Narbe. Die Ärzte sagten, es wäre aber ein Wunder gewesen, das ich so lange mit der Scherbe im Bauch überlebt hatte. 
„Tut mir leid, das ich gefragt hab.“ Kira schaute mich entschuldigend an.
„Schon ok. Ich vertraue dir.“ Im nächsten Moment lagen wir uns in den Armen und blieben eine Weile so stehen. Den Rest des Weges sagte keiner was. Auf dem Weg zum Sekretariat begrüßte Kira einige Schüler, die mich neugierig musterten. Nachdem ich meine Unterlagen geholt hatte, gingen Kira und ich zurück zur Klasse. Ich setzte mich zum Tisch neben Kira und stellte meine Sachen auf den Boden. In der Klasse war es für einen Moment still geworden, als ich den Raum betrat, doch jetzt unterhielten sich wieder einige.
„Hallo, L.“, ertönte eine männliche Stimme hinter meinem Rücken. Schlagartig verspannte ich mich, ließ es mir jedoch nicht anmerken. „Was willst du, Lucas?“, zischte ich.
„Das weißt du. Außerdem sitzt du auf meinem Platz.“, antwortete er lachend.
„Gut beobachtet.“, gab ich gelassen zurück, ihm immer noch den Rücken zugekehrt. Ich rechnete schon mit einer schnippischen Antwort, doch Lucas lachte nur und setzte sich hinter mich. 
„Was war das denn?“, flüsterte Dawn von ihrem Platz aus. Doch bevor ich antworten konnte, setzte sich ein blonder Junge neben mich. Ich dachte ihn gestern beim Fußballfeld gesehen zu haben. 
„Hallo, ich bin Tyler. Du bist Lydia, oder? Ich hab gestern mit deinem Bruder Fußball gespielt. Er ist ziemlich gut.“ Tyler lächelte mich an, dabei fuhr er sich mit der Hand durch sein Haar. Tyler hatte blaue Augen und ein kantiges Gesicht. Seine Arme waren muskulöser als die von Lucas, und sein enges Shirt spannte sich über seine Brust. 
Tyler merkte, dass ich ihn anstarrte und begann zu grinsen. Schnell wandte ich den Blick ab, wäh-rend er zurück zu Lucas marschierte. Kira grinste mich blöd an und Anabel und Dawn zogen die Au-genbrauen nach oben und pfiffen.
Zum ersten mal in meinem Leben war ich froh, dass der Lehrer pünktlich war.

Carpe diem, LydiaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt