Kapitel 3

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„Setzt euch alle auf eure Plätze, bitte!“, rief der Lehrer. Er war ungefähr dreiundzwanzig, groß und gut gebaut. Er hatte hellbraune Haare und musterte mich durch seine Brille hinweg. 
„Du bist bestimmt Lydia? Ich bin Herr Blunt, stell dich doch bitte der Klasse vor.“ Mit klopfenden Herzen stand ich auf und zwang mich immer einen Schritt vor den anderen zu machen. Als ich neben Herrn Blunt stehen blieb, ruhten alle Blicke auf mir. „Hallo. Ich bin Lydia Crane. Ich bin gestern mit meiner Familie hierhergezogen und wohne jetzt bei Kira.“ Mit diesen Worten senkte ich den Kopf und rannte schon fast zu meinem Platz. Verwundertes Gemurmel wanderte durch die Reihen und brach die Stille, die vorher nur meine Stimme aufhielt. Anscheinend wussten die meisten gar nicht, das John mit meiner Mutter zusammen war.
Herr Blunt ließ sich jedoch davon nicht aufhalten und begann sofort mit seinem Unterricht. Tyler schob mir während seiner Stunde einen Zettel hin, wo er mich fragte, ob ich mich heute in der Mit-tagspause zu ihm setzten würde. ‚Tut mir leid, bin schon mit Kira und Co. verabredet. Du kannst dich aber zu uns setzten‘ schrieb ich zurück.
Tyler lächelte und nickte. Der Rest der Stunde verlief problemlos. Nach dem klingeln stand ich auf und ging mit Kira in den nächsten Kurs: Mathe. Igitt. 
„Kira, ist es ok, wenn Tyler heute beim Essen bei uns sitzt?“, fragte ich sie.
„Klar, Tyler ist cool. Aber dir ist schon klar, dass die anderen dann auch bei und sitzen werden?“, antwortete und zog dabei ihr Handy aus ihrer Tasche.
„Welche anderen?“ Ich hatte schon so eine Vorahnung. Mit ‚die anderen‘, meinte Kira sicher Tylers Freunde. Und Lucas war Tylers Freund, sogar sein bester Freund wenn ich mich nicht irrte. Aber was sollte schon groß passieren? Wenn Lucas sich wirklich zu uns an den Tisch setzte, waren da immer noch -zig andere Schüler, die die Neue mit ihren Blicken aufsaugten. Er würde mir nie etwas in der Öffentlichkeit antun, dachte ich. Trotzdem stieg Angst in mir auf und fraß sich in meine Eingeweide.
„Oh mein Gott!“, rief Kira plötzlich. Sie war mitten im Gang stehen geblieben und schaute mit ihren waldgrünen Augen auf den Bildschirm ihres Smartphones. Einige Schüler drehten verwundert ihre Köpfe in unsere Richtung. Ich packte Kira am Arm und zog sie ins Mädchenklo. Ich hasste es, in der Öffentlichkeit zu stehen. Kiras rotlackierte Finger flogen förmlich über die Tasten und tippten eifrig eine Nachricht. „Was ist den los?!“ Ich versuchte, einen Blick auf den Bildschirm werfen zu können, doch vergeblich. Kira hob ihren Kopf und schaute mich an, als hätte sie ganz vergessen, dass auch noch andere Menschen auf diesen Planeten lebten. Dann grinste übers ganze Gesicht.
„Anabel. Es ist Anabel!“, rief sie aufgeregt und hüpfte auf und ab. Ich schaute sie nur fragend an, dann erklärte sie: „Anabel ist schon seit Ewigkeiten in Derek verknallt. Er auch in sie, aber keiner von beiden hat sich getraut, den ersten Schritt zu machen. Und gerade hat Derek sie am Flur abgepasst, sie in eine Ecke gezogen, und sie geküsst! Ist das nicht WAHNSINNIG romantisch?“
„Warte, warte. Also dein Bruder Derek und Anabel sind zusammen, oder wie? Findest du das nicht komisch wenn deine beste Freundin mit deinem Bruder zusammen ist?“
„Erstens: Er ist nicht mein Bruder, er ist unser Bruder. Zweitens: Es macht mir nichts aus, solange die beiden glücklich sind. Also nein, ich finde es nicht komisch.“ Mit diesen Worten hackte sie sich bei mir unter und verschwand aus der Toilette.
In der Mittagspause gingen wir raus und setzten uns auf eine Bank. Dawn hat Tyler eine SMS ge-schrieben, das wir vor der Schule warteten. Keine Minute später kam Tyler mit zwei Jungs zu uns und wir setzten uns unter einen Baum. Tyler Freunde waren nicht annähernd so schon wie Tyler, sahen aber auch nicht schlecht aus. Einer von Tylers Freunden war Lucas.
„Also, Lydia, wo kommst du her?“, fragte Tyler.
„Aberdeen.“, antworteten Lucas und ich wie aus einem Mund.
„Hey, L, kann ich kurz mit dir sprechen? Allein?“ Lucas sah mich flehend an. Alles in mir schrie nein, trotzdem nickte ich. Als er mir seine Hand hinstreckte und mit seinem typischen sexy Lächeln anlä-chelte, war meine Angst, die all die Jahre in mir gesessen und sich eingenistet hatte, wie weggebla-sen. Ich nahm seine Hand und er zog mich hoch. Ich sah Derek, Eren und Finn, wie sie vom Parkplatz auf uns zukamen. Finns Blick verfinsterte sich als er mich mit Lucas weggehen sah, und automatisch beschleunigte ich meine Schritte. Wenn Finn jetzt zu uns kam, würde es nur in einer Schlägerei enden. Ich spürte noch die Blicke der anderen in meinem Rücken, als Lucas und ich um die Ecke bogen und hinter die Schule gingen.

Carpe diem, LydiaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt