Kapitel 26

204 12 2
                                    

Ich schloss kurz die Augen und holte tief Luft.
„Der Schnitt ist nur oberflächig. Er ist gar nicht tief.“, meinte Dawn und holte ein Pflaster aus ihrer Tasche. Sie klebte es mir auf die Stirn, als ich mit zitternder Stimme fragte: „Zwangzigtausend?“
Anabel nickte traurig und schaute zu Boden. Ich räusperte mich und setzte mich aufrecht hin. Anabel und Dawn waren durch den Wind, also musste ich ihnen helfen und mir was überlegen, denn die beiden waren eindeutig nicht in der Lage dazu.
„Anabel, ich will jetzt nicht dass du das falsch verstehst“, sagte ich nach einem Moment und brach die Stille. Anabel hob den Kopf und schaute mich neugierig an. Ich schielte zur Tür. Kira musste gleich wieder da sein. „Aber ich dachte, du bist reich? Ich meine, so richtig?“ Außerdem fehlt es Dawn auch nicht an Geld, dachte ich, sprach es aber nicht aus.
Anabel rutschte nervös hin und her. Als sie sprach, sah sie nicht mich an, sondern Dawn, als wäre es ihr peinlich, was sie mir erzählen wollte. „Meine Eltern und Liam – mein Bruder – kam damals seit einiger Zeit nicht gut miteinander aus. Liam machte immer wieder Ärger. Nichts richtig schlimmes“, versicherte sie mir schnell, „aber eben auch nichts gutes. Er war zu dieser Zeit ziemlich nervenaufreibend. Meine Eltern und Liam distanzierten sich immer mehr. Sie redeten nur noch wenig miteinander. Dafür wurde unser Verhältnis umso besser. Wir unternahmen oft was zusammen, wenn Liam frei hatte. Ich erfuhr erst spät, dass er Spielschulden hatte, und natürlich wollte er sich nicht helfen lassen. Als er dann seinen Unfall hatte, mit Dawns Bruder, kam es mir so vor, als wären meine Eltern…erleichtert, dass er fort ist. Die anderen haben mir immer wieder gesagt, es sei Schwachsinn und sie sahen ja, wie schlecht es ihnen ginge. Aber ich habe immer die Erleichterung in ihren Augen aufblitzen sehen. Sie hatten damals nicht sehr viel Respekt vor Liam, und ich will nicht, dass sie auch noch den letzten Funken verlieren.“ Eine Träne stahl sich aus ihrem Auge und rann ihre Wange herunter, doch Anabel wischte sie schnell weg, als die Tür aufging. Kira kam auf uns zu.
Ich stand auf und trank die Cola mit zwei Schlucken bis zur Hälfte aus. Meine Hand zitterte, als ich die Flasche zuschraubte und sie in den Rucksack stopfte.
„Ich hab Finn eine SMS geschrieben. Er wartete vor der Schule auf dich und bringt dich nach Hause.“
Fragend hob ich eine Augenbraue, als wir durch die Tür gingen. „Du willst doch nicht ernsthaft hier bleiben oder? Du siehst schrecklich aus.“ Tyler lehnte an der Wand neben der Toilette und richtete sein Cap. Wir blieben stehen, als er mit einer Handbewegung auf Dawn, Kira und Anabel deutete und fragte: „Könntet ihr uns kurz allein lassen?“ Die drei tauschten einen Blick bevor sie schnell den Gang entlangliefen. Kira drehte sich nochmals um und lächelte mich an.
Tyler und ich warteten bis die anderen außer Sichtweite waren, bevor wir langsam losgingen.
„Was ist wirklich passiert?“, platzte er heraus.
„Du redest wohl nicht groß um den heißen Brei herum, was?“ Ich lächelte und versuchte, vom Thema abzulenken.
„Komm schon. Ich weiß das du nicht gestürzt bist. Sogar meine kleine Schwester ist eine bessere Lügnerin als du, und die ist vier und fängt immer lauthals zu lachen an, sobald eine Lüge ihre Lippen verlässt.“
„Ich hab nicht gelogen.“, murmelte ich und zog den Kopf ein. „Ich bin wirklich gestürzt.“ Nicht gelo-gen, aber auch nicht die ganze Wahrheit.
Tyler blieb stehen, hob die Augenbraue und schüttelte gleich darauf lachend den Kopf. „Du willst mich verarschen, oder? Hey, du kannst mir vertrauen.“ Er griff nach meiner Hand und sendete Schmetterlinge durch meinen ganzen Körper. Ich schaute auf unsere Hände und entzog ihm meine schnell. Das war nicht der richtige Zeitpunkt für irgendwelche Liebleien. Kurz konnte ich schwören, ich sah Enttäuschung in seinen Augen aufblitzen.
„Also“, sagte er nach einem Moment. Er schob seine Hände wieder in seine Hosentaschen und legte den Kopf schief, sah mich aber ernst an: „Sagst du mir, was wirklich passiert ist, oder muss ich es selbst herausfinden?“

Carpe diem, LydiaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt