Kapitel 4

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Lucas wanderte vor mir auf und ab. Es wunderte mich, dass man noch keine Löcher am Boden sah. Ich stand an der Wand und wartete darauf, dass Lucas endlich etwas sagte. Plötzlich blieb er stehen und sah mich an. Er kam einen Schritt auf mich zu und nahm vorsichtig meine Hand. Seine Spätsom-merbräune ließ ihn unwiderstehlich wirken und betonte seine traurigen Augen. Doch ich wusste es besser. „Es tut mir leid, Lydia. Wirklich. Es tut mir leid, dass ich…was damals passiert ist.“, sagte Lucas.
Damals. Ich erinnerte mich noch gut an diesen Abend, es hatte sich für immer in mein Gehirn ge-brannt, und so sehr ich es auch wollte, ich konnte es nicht vergessen. Lucas und ich waren damals genau ein Jahr zusammen, und ich wirkte wie das glücklichste Mädchen der Welt. Neben unserem Jahrestag war auch mein Geburtstag. Ich wurde fünfzehn. Es ist noch nicht mal ein Jahr her, denn bald ist mein sechzehnter Geburtstag. Lucas Eltern waren nicht zu Hause, also beschlossen wir, dort eine Party zu feiern. Lucas war sehr beliebt an unserer Schule – hauptsächlich weil er reich war -, deswegen kamen auch viele. Er trank ein Bier nach dem anderen. Obwohl ich das nicht mochte, sagte ich nichts. Schließlich wollte ich nicht die spießige Freundin sein, die jeden den Spaß verdirbt. Also schnappte ich mir auch eine Flasche und trank. Aber im Gegensatz zu mir blieb es bei Lucas nicht bei einer Flasche. Nach einer Weile war er schon ziemlich besoffen, als ich beschloss, mit ihm einen Spaziergang zu machen. Ich wusste, dass es nicht schlau war, mit meinem besoffenen Freund nachts durch die Straßen von Aberdeen zu ziehen, aber was sollte schon passieren. Lucas schlug mich nie. Zumindest nicht mit Absicht. Das redete ich mir jedenfalls immer ein. Ungefähr ein- oder zweimal pro Woche landete seine Hand an meiner Wange und hinterließ einen roten Fleck. Lucas schlug aber immer nur so fest zu, dass man nach kurzer Zeit nichts mehr sah, und keiner etwas davon mitbekam. Ich wusste nicht warum ich nicht mit ihm Schluss machte, wahrscheinlich aus Angst.
Damals wollte ich Lucas zum ausnüchtern in ein Hotel bringen. Klar, die Party fand in seinem Haus statt, er hätte sich auch dort hinlegen können. Aber er hätte nie zugelassen, dass ich die Party beende, und solange noch alles am Laufen war, dachte er gar nicht daran sich hinzulegen. Zu mir nach Hause konnte ich ihn auch nicht bringen, meine Mutter wäre ausgerastet. Also lockte ich ihn aus dem Haus und führte ihn weg. Auf der Suche nach einem offenen Hotel streiften wir durch die Stadt. Doch plötzlich packte Lucas mich am Arm und zog mich in eine Gasse. „Lass uns was anstellen.“, flüsterte er mir ins Ohr. 
„Was meinst du?“ Angst packte mich.
„Ich weiß auch nicht. Lass uns einen Laden ausrauben, oder…“ Er drückte mich gegen die Wand und küsste mich. Danach schob er seine Hände unter mein Shirt und wollte es mir ausziehen.
„Stopp.“, flüsterte ich. Doch er hörte nicht auf und mit seinen Händen immer weiter hinauf.
„Stopp!“, rief ich etwas energischer. „Ich will das nicht.“ Lucas schaute mich wütend an und holte aus. Mein Kopf wurde zur Seite gerissen. Aus meiner Nase rann Blut, und meine Wange fühlte sich schrecklich an. Er trat mir in den Bauch. Tränen rannten mir aus den Augen und tropften auf den kalten Asphalt. Plötzlich hörte ich jemanden kreischen. Lucas drehte überrascht seinen Kopf in die Richtung, aus dem das Geschrei kam, als er plötzlich von hinten gepackt wurde und auf den Boden gedrückt wurde. Doch er befreite sich und rannte davon.
Meine beste Freundin Olivia hockte sich vor mir und strich mir durchs Haar. Sie flüsterte mir beruhigende Worte zu, doch ich nahm das alles gar nicht wahr. 
Ich wurde ins Krankenhaus gebracht. Ich durfte bald wieder nach Hause, denn außer einer geprellten Wange und einer gebrochenen Nase war alles ok.
Später fand ich heraus, dass Olivia, Finn und Alec, ein Freund von Finn, nach mir suchten, weil ich einfach ohne ein Wort verschwunden war. Meine Mutter und Finn bestanden darauf, Lucas wegen Körperverletzung anzuzeigen. Doch ich wollte es nicht. Denn trotz allem liebte ich ihn noch. Auch wenn ich es nicht zugeben wollte. Und das tat ich auch jetzt noch.
Nach diesem Vorfall zogen Lucas und seine Eltern weg und ich dachte, ihn nie wieder sehen zu müssen. Tja, falsch gedacht.
Bei seiner Berührung kroch Gänsehaut über meine Arme. Mein Handy vibrierte, doch ich ignorierte es. Ich wollte meinen Arm aus Lucas‘ Hand ziehen, doch er ließ es nicht zu. Die Schulglocke läutete und bedeutete somit das Ende der Pause.
„Hör mich an, Lydia. Ich weiß dass es falsch war. Nicht nur der Vorfall in der Gasse, sondern alles. Ich hab dich wie das letzte Stück Dreck behandelt, weil ich dachte, du wärst selbstverständlich für mich. Doch erst als du weg warst, wusste ich, dass du es nicht bist. Hör mir zu, Lydia. Ich weiß, ich hab Fehler gemacht. Aber ich habe dich geliebt, wirklich. Ich liebe dich immer noch. Und ich weiß, dass du es auch noch tust. Ich kann es in deinen Augen sehen.“ Ich stand wie angewurzelt da und ließ alles Revue passieren. Ich merkte, wie sehr er das Vergangene bereut, doch konnte ich ihm verzeihen? Ich wusste es nicht. Mein Handy läutete jetzt schon zum fünften Mal. Ohne nachzusehen, wer es war, hob ich ab.
„Hallo?“, fragte ich abwesend. Ich sah noch immer Lucas an.
„Hey, hier ist Dawn. Wo steckst du? Finn dreht schon fast durch, seit er gesehen hat, dass du mit Lucas abgehauen bist. Was ist-“
„Sag ihm, er soll nicht auf mich warten. Wir treffen uns zu Hause.“ Ich legte auf und rannte nach Hause.

Carpe diem, LydiaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt