36. Ich kann die Welt belügen, aber nicht dich

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„Mama, ich muss Schluss machen. Frida ist schon wieder so ruhig, die stellt bestimmt wieder Unsinn an", wimmelte Karin das Telefonat ab und legte ihr Telefon auf die Arbeitsplatte, bevor sie die Küche verließ. Sie musste gar nicht lange suchen, denn ihre sechzehn Monate alte Tochter machte sich gerade an dem schwarzen Müllbeutel zu schaffen, der im Flur lag. Sie stand auf wackeligen rosa Rutschesocken daneben und versuchte mit ihren kleinen Fingerchen das schwarze Plastikband zu öffnen.
„Frida, nein. Lass das", rief Karin energisch und lief zu ihr. Diese stoppte ihre Bewegung augenblicklich und schaute erschrocken zu ihrer Mutter, die inzwischen bei ihr angekommen war und sie auf den Arm hob: „Das ist eklig, Frida. Der Müll gehört in die Mülltonne und nicht in kleine Kinderhände, okay?"
„Mama?", fragte sie neugierig.
Sanft strich sie ihr über die Haare und küsste sie auf den Kopf: „Es ist alles gut, Frida." Karin drehte ihren Kopf in Richtung Obergeschoss. „Stefaaan", schrie sie das langgezogene A nach oben. „Du wolltest den Müll raus bringen und jetzt steht der hier im Flur, sodass Frida ungehindert dran kommt", maulte sie entnervt und verdrehte die Augen.
„Was hast du gesagt?", erfragte Stefan, als er gerade die Treppe hinunter kam.
Karin antwortete nicht, griff nur stumm nach dem Müllsack und drückte ihm diesen mit einem eisigen Blick gegen die Brust: „Den wolltest du nach draußen bringen."
Dann drehte sie sich um, verschwand mit Frida im Wohnzimmer und ließ einen sprachlosen Stefan zurück. Dieser verschwand kurz im Hof und deponierte den Sack in der Mülltonne. Als er wieder drin war, machte er sich ebenfalls auf den Weg ins Wohnzimmer und blieb in der Tür stehen.
Er betrachtete seine beiden Frauen, die gemeinsam auf dem Boden saßen und spielten, dabei stand Frida immer wieder auf und trottete auf leicht wackeligen Füßchen zu ihrer Mama, um ihr das Spielzeug zu bringen und sich auf ihren Schoß fallen zu lassen. Karin schloss ihre Tochter liebevoll in eine Umarmung.
Normalerweise machte er sich nicht viel aus Kleidung und zog selbst immer nur die Sachen an, die ihm morgens zufällig in die Hände fielen. Aber an Fridas Kleidung hatte er wirklich einen Narren gefressen. Heute trug sie ein kleines rosa Kleidchen, eines von Allerlei Kleidungsstücken mit denen ihre Omas sie regelmäßig eindeckten. Eine weiße Strumpfhose bedeckte ihre Beinchen und damit sie einen festen Stand auf ihrem Holzboden hatte, trug sie die passenden rosa Socken. Ihre blonden Haare gingen ihr inzwischen bis in den Nacken und ihren Pony hatte Karin mit einem rosa Gummi in einen kleinen Zopf auf ihrem Kopf leicht nach hinten gebunden, damit sie Frida beim Spielen nicht ins Gesicht fielen. Mit diesem Outfit sah sie wirklich unfassbar niedlich aus und erinnerte ihn ein wenig an die kleine Karin, die er auf Bildern gesehen hatte.
Stefan dachte an den Moment, als Frida ihre ersten Schritte machte.

Karin saß auf dem Sofa und blätterte durch eine Zeitschrift, während Frida und Stefan sich auf dem Boden gegenüber saßen und sich ausgelassen einen Ball hin und her rollten. Plötzlich nahm Frida den grünen Ball in ihre Hände und warf ihn quietschend und lachend im hohen Bogen nach oben, sodass er auf dem Sofa landete. Mit dieser Aktion gewann sie die Aufmerksamkeit von ihren Eltern und sie krabbelte so schnell sie ihre Beinchen tragen konnten zur Couch, an der sie sich nach oben zog. Sie krallte sich in die Bezüge und wackelte kräftig mit ihrem Po, während sie nach ihrem Ball schnappte.
Komm her, Frida", ermunterte Stefan sie zu ihm zu laufen und anstatt sich auf die Knie fallen zu lassen, wie sie es sonst immer tat, weil sie sich die letzten Wochen immer gegen das Laufen gesperrt hatte, machte sie plötzlich unsicher und leicht wankend fünf Schritte in seine Richtung. Frida ließ sich den letzten Rest, mit dem Gedanken daran, dass ihr Papa sie immer auffangen würde, sorglos in seine Arme fallen. Stolz grinsend nahm sie das Lob ihrer Eltern entgegen, die sie voller Liebe knuddelten.

Sein Blick fiel auf die grün-gelbe Wickeltasche, die über der Stuhllehne hing, und er lächelte, als er sich an die Geschichte erinnerte, wie sie diese geschenkt bekamen.

Zu dritt saßen sie in einem kleinen Café. Karin hatte ihm Frida gerade übergeben, nachdem sie sie gestillt hatte. Nach ihrem Bäuerchen lag sie nun friedlich in ihrem gelben Strampler mit dem kleinen Häschen in seiner linken Armbeuge und schaute sich aufmerksam um, wobei sie ihm immer wieder unbewusst ein Lächeln zuwarf. Seit ein paar Tagen wusste er, dass Frida tatsächlich seine leibliche Tochter war und seine Laune konnte ihm niemand verderben, während er sie in seinem Arm verträumt beobachtete. Keine meckernde Schwiegermutter, keine roten Ampeln und schon gar nicht das Chaos im G-Kurs. Im Moment war er einfach nur glückselig und erfreute sich an jedem einzelnen Augenblick mit seinen beiden Frauen.
Deshalb bemerkte er auch nicht die blonde, schwangere Frau mit ihrem Sohn an der Hand, die das Café betraten. Ebenso wie Karin, die in der Wickeltasche kramte und sich mal wieder darüber aufregte, dass diese viel zu unordentlich und klein war, um alle Sachen von Frida unterzubringen. Außerdem fand sie diese auch noch außerordentlich hässlich und es war schon die Dritte, die sie ausprobierten. Aber zufrieden war sie trotz vorheriger Abwägung durch eine Pro- und Contra-Liste trotzdem nicht.
Karin, jetzt entspann dich mal." Er legte seine freie, rechte Hand auf ihren Oberschenkel und streichelte diesen sanft. Seinen Fokus nahm er jedoch keine Sekunde von Fridas zarten Gesichtszügen. „Der Moment ist viel zu schön, um sich aufzuregen. Wir haben einen freien Nachmittag, du hast deinen Lieblingskuchen und einen großen Becher Kakao vor dir, unser Töchterchen ist friedlich und kerngesund, wie uns ihr Kinderarzt vorgestern bestätigt hat. Außerdem bin ich da, was du wahrscheinlich auch nicht allzu schlecht findest."
Sie rückte etwas näher an die Beiden heran, um ihre Hand auf seine linke Wange zu legen. Sanft drückte sie ihm einen Kuss auf seine vom Drei-Tage-Bart bedeckte rechte Wange und er schmunzelte. Langsam drehte Karin seinen Kopf mit ihren Händen auf seiner Wange zu sich und lehnte ihre Stirn lächelnd gegen seine. Liebevoll verschloss er ihre Lippen zu einem Kuss.
Dieser wurde unterbrochen, als Fridas Kinderwagen plötzlich gegen Karins Bein rollte.
Max, bitte entschuldige dich", ertönte eine Frauenstimme.
Ups, tut mir Leid", blickte Karin ein kleiner braunhaariger Junge entschuldigend an und reichte ihr die Hand.
Ist nichts passiert, alles gut", nahm sie seine Hand und somit auch seine Entschuldigung lächelnd an.
Als Karin nun ihren Blick hob und die Frau betrachtete, glaubte sie ihren Augen nicht: „Sophie?"
Karin?" Sie nickte und schon lagen sich die Frauen freudig in den Armen.
Ich bekomme auch bald eine kleine Schwester", wandte sich Max an Stefan, zu dem er sich langsam vorgearbeitet hatte.
Das ist Frida...", beugte er seine Tochter etwas nach unten, sodass der kleine Junge sie sehen konnte. „... und ich bin Stefan."
Ich bin Max", griente er.
Der Junge hob seine Hand: „Frida ist aber noch ganz schön klein."
Sie ist auch erst sechs Wochen alt, deshalb muss man behutsam mit ihr umgehen."
Vorsichtig streichelte er mit seinem Zeigefinger über Fridas Wange, der dies sichtlich gefiel und lächelte. Während die beiden Jungs sich um Baby Frida kümmerten, verfielen die beiden Frauen in einen kurzen Plausch.
Ich könnte übrigens mit deinem Wickeltaschenproblem Abhilfe schaffen."
Du hast dein Nähen tatsächlich zum Beruf gemacht?"
Sophie nickte stolz: „Ja, ich habe ein kleines Atelier in der Südstadt. Ihr könnt gerne mal vorbeischauen und dann gestalte ich euch etwas nach euren Wünschen."
Sie fischte eine Visitenkarte aus ihrer Handtasche und schrieb auf die Rückseite noch schnell mit schwarzem Kugelschreiber ihre private Handynummer.
Dann können wir uns in der nächsten Zeit mal zum Quatschen treffen. Max und ich müssen jetzt leider direkt weiter."
Ja, ich bin noch auf einem Geburtstag eingeladen."

Ein perfekter Moment, den möchte man am liebsten einfrierenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt