37. Deine Augen leuchten golden

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Ich geh mit meiner Laterne und meine Laterne mit mir.
Da oben leuchten die Sterne, da unten leuchten wir.
Wie schön es klingt, wenn jeder singt. Rabimmel, rabammel, rabumm.
Wie schön es klingt, wenn jeder singt. Rabimmel, rabammel, rabumm, -bumm, bumm."

Stefans Blick wanderte zu seiner Tochter, die fest seine linke Hand umklammerte und ihn mit strahlend blauen Augen anlächelte, während sie stolz ihre hell leuchtende Laterne in Form einer Wolke vor sich her trug. Neben der vier Jahre alten Frida lief ihre beste Freundin Leonie neben ihrer Mama Marie her und schaute ihn ebenfalls mit glänzenden braunen Augen ein. Beide Mädchen sangen fröhlich und im Einklang mit der Traube aus Eltern und Kindern die Zeilen der Lieder, während sie ihre Laternen durch die Dunkelheit des Novembers trugen und sich der Zug aus Menschen durch die Straßen Kölns schlängelte.
Karin war mit einem kranken Jakob zu Hause geblieben. Ihr sechs Monate alter Sohn plagte sich seit Tagen mit einer fiesen Erkältung. Stefan genoss die Zeit mit seinem kleinen Mädchen, das ihren dicken, roten Wintermantel, ihre braunen Stiefel und ihre blaue Mütze gegen die Kälte trug.
„Papi, schau wie schön meine Laterne glitzert und leuchtet", strahlte sie ihn glücklich an.

Stefan schlug den Kragen seines schwarzen Wintermantels nach oben und zog seine schwarze Mütze wieder über seine Ohren, während er Marie und Leonie den Weg zu ihrem Haus folgte. Eine schläfrige Frida trottete an der Hand ihres Papas hinterher, der sie förmlich hinter sich her zog. Ihre inzwischen erloschene Laterne schliff dabei fast auf den Boden. Noch bevor sie die Haustür erreichten, schnappte er sich deshalb seine Tochter und hob sie in seine Arme, die sich fest an seinen Oberkörper schmiegte und nahm ihr die Laterne ab bevor das selbstgebastelte Kunstwerk durch einen Sturz noch zerstört wurde.
Marie hatte bereits die Haustür aufgeschlossen, sodass Leonie unter ihrem Arm hineinschlüpfte, ihre Winterkleidung auszog und ihre Mutter sich zu Stefan umdrehte. In ihren Augen erkannte er sofort einen Anflug von Traurigkeit und sie wischte sich schnell über diese.
„Wir sind am Sonntag um 10 Uhr bei euch", zog er die braunhaarige Frau mit einem Arm in eine feste Umarmung, die diese trübselig erwiderte und für einen kurzen Augenblick ihre Augen schloss. Vor knapp einem Jahr war Leon, Leonies Vater und Maries Ehemann, bei einem Verkehrsunfall gestorben, nachdem er von einem betrunkenen Fahrer von der Straße abgedrängt worden und mit seinem Auto gegen einen Baum geprallt war. Leonie war gerade erst drei Jahre alt gewesen und Leons Tod hatte die Verbindung zwischen den Familien nur stärker gemacht. Besonders Karin und Marie verband inzwischen eine innige Freundschaft und die beiden Frauen verbrachten unzählige Stunden zusammen, in denen sie gemeinsam weinten und trauerten, aber nach einiger Zeit auch wieder gemeinsam lachen und sich an die schönen Momente erinnern konnten.
Stefan wusste, dass der erste Todestag für alle schwer werden würde, weshalb es für Karin und ihn überhaupt gar nicht außer Frage stand, diesen mit den beiden zu verbringen und sich gegenseitig abzulenken und Trost zu spenden, wenn es nötig war.
„Schlaft gut", er drückte Marie einen kleinen Kuss auf die braunen Haare.
„Ihr auch", lächelte sie ihm zu. „Und danke, dass ihr für uns da seid, Stefan."
Stefan erwiderte ihr Lächeln aufmunternd.
„Tschüssi, Stefan", winkte Leonie von ihrem Platz auf dem Boden zum Abschied.
„Gute Nacht, kleine Maus", erwiderte er ihren Gruß, die Haustür fiel ins Schloss und er wandte sich zum Gehen.
Er kannte das kleine Mädchen seit ihrem dritten Lebensmonat und sie war ihm unglaublich ans Herz gewachsen, besonders seitdem ihr Vater ums Leben kam. Seine Gedanken schweiften ab zu einer Nacht kurz nach dem Tod, als Leonie bei ihnen übernachtet hatte, während er seine Tochter, die inzwischen ihre Augen endgültig geschlossen hatte und geruhsam schlief, behutsam die letzten Meter nach Hause trug.

Papi, Papi!" Plötzlich stand Frida laut redend an seinem Bett und rüttelte aufgeregt an seiner Schulter. Er brauchte ein paar Sekunden um sich zu orientieren und seine Tochter zu erkennen.
Leonie liegt im Bett und weint ganz doll."
Sofort war Stefan hellwach und auf nackten Füßen mit schnellen Schritten aus dem Schlafzimmer verschwunden. Frida blieb zurück und wurde von Karin, die ebenfalls aufgewacht war, ins Bett gezogen und in die Arme genommen, in die sie sich fest einkuschelte.
Schon vom Weitem konnte er das Weinen hören und betrat das Kinderzimmer.
Hey Leonie, ganz ruhig. Ich bin hier", beruhigte er sie mit sanfter Stimme und strich ihr über die dunklen Haare.
Er hob sie aus dem Bett in seine Arme und setzte sich mit ihr auf den Schaukelstuhl in der Ecke. Behutsam schaukelte er diesen und strich ihr beruhigend den Rücken. Das kleine Mädchen vergrub ihr schluchzendes Gesicht in seinem Hals. Leise redete er entspannend auf sie ein.
Ich möchte meinen Papi wiederhaben!" Ihr Heulen wurde immer wieder durch Schluckauf unterbrochen.
Weißt du, Leonie. Ich kann dir deinen Papa niemals ersetzen, weil er immer dein Papa sein wird, auch wenn er nicht mehr bei uns ist. In deinem Herzen wird er immer bei dir sein und dich bei deinen Schritten von oben beobachten und begleiten. Aber ich kann dir eins versprechen. Wenn du mal jemanden brauchst, der dir hilft, dir zuhört oder dich einfach in den Arm nimmt, dann kannst du immer zu mir kommen. Ich werde jederzeit für dich da sein."
Er hörte ein zaghaftes „Danke" und schaukelte im Stuhl langsam weiter, bis er bemerkte, dass Leonies Atem gleichmäßiger wurde und sie wieder eingeschlafen war.

Ein perfekter Moment, den möchte man am liebsten einfrierenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt