Kapitel 12 - Die Hinrichtung

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„Aufwachen!"
Sofort war ich hellwach. Mein Nacken schmerzte, weil ich an die Wand gelehnt eingeschlafen war, die linke Seite meines Halses schmerzte, weil ich dort gebrandmarkt worden war. Auch Earl neben mir rappelte sich auf. Mürrisch sah ich die Wache an, eine andere diesmal als letzte Nacht.

„Ihr werdet jetzt zu eurer Hinrichtung abgeholt", rief er durch den Gang. Mein Magen verkrampfte sich. Vier andere Wachen traten zu ihm, Handschellen bei sich.

Wenig später stand ich mit den hinter dem Rücken gefesselten Händen im Gang, Jim neben mir, Earl hinter uns.
Die Männer wurden von je zwei Wachen festgehalten, ich nur von einer, aber das machte es nicht besser.
Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel, auf das Gott mir meine Taten verzeihen möge, aber ich glaubte nicht daran.

Ich hörte die Menge, bevor ich sie sah und mir lief es kalt den Rücken hinunter. Irgendein Redner erzählte etwas, das ich aber nicht verstand und dann sah ich den Galgen.

Wir traten alle auf das Podest und ich konnte die Leute ansehen.
Das war es, was es so viel schlimmer machte.
Die Verachtung mit der sie mich alle ansahen.
Ich war eine von ihnen gewesen, einige waren gestern noch auf meiner Hochzeit gewesen. Immer noch trug ich das Hochzeitskleid.
Mary stand in der Menge und sah mich an, sie weinte und schüttelte den Kopf und ein Stück hinter ihr sah ich Susanna, die mich mit kaltem Blick durchbohrte.
Arthur sah ich nirgends und das beunruhigte mich.
Die Hinrichtung begann mit Earl. Entschlossen trat er unter den Galgen, der Strick wurde ihm umgelegt, die Luke klappte auf und ein hässliches Knacken erfüllte die Luft.
Eine Träne rann mir über die Wange.
Ich hatte Earl gemocht. Aber was nützte das jetzt schon, ich würde ihm doch gleich folgen. Sie holten seine Leiche weg und Jim trat vor.

„Alles wird gut!"

Er musste es rufen, damit ich es hörte, und lächelte mich an.
Da nahm ich hinter mir eine Begegnung wahr.
„Dreh dich nicht um", flüsterte mir eine Stimme ins Ohr und meine Fesseln fielen ab, „Für die Menschen dort unten bist du immer noch gefesselt."
Was war hier los?

„Die Luke geht nicht auf", beschwerte sich eine der Wachen. Jim sah zu Boden und grinste. Was machte er da?

„Lass mich mal", ein anderer Wachmann kam dem ersten zur Hilfe.
Auf einmal ragte ein Pfeil aus seiner Brust, die Menschen unten auf dem Platz schrien.
Ich sah mich nach dem Schützen um, sah aber niemanden.
Da riss Jim die Hände aus den Fesseln, streifte die Schlaufe von seinem Kopf und trat dem anderen Wachmann vor die Brust, sodass dieser das Gleichgewicht verlor und von dem Podest stürzte.

Jim hatte ihm aber vorher noch den Degen abgenommen.

Aus der Menge lösten sich einige Gestalten mit Waffen.
Ich sah mich um, aber mein Befreier war nirgends zu sehen.
Jim packte meine Hand und zog mich vom Podest, zurück in Richtung Gefängnis, aus dem Wachen herausströmten.
Also übernahm ich die Führung und zog ihn durch Seitenstraßen und schließlich unter einen Torbogen.
Eine Wache rannte an uns vorbei.
Keuchend ließ ich mich gegen die Wand sinken. Schwer atmend schloss ich die Augen und versuchte mein Herz zu beruhigen.
Im nächsten Augenblick spürte ich Jims Lippen auf meinen.
Ich wollte einen Schritt zurück machen, knallte aber stattdessen mit dem Kopf gegen die Wand, also verpasste ich Jim eine Ohrfeige.
Er ließ von mir ab und hielt sich die Wange. Immerhin hatte er den Anstand, nicht zu fragen wofür das war.
„Wir müssen zum Schiff", sagte er. Ich nickte, nun konnte ich nie mehr zurück nach Hause. „Ich komme nach", schob ich hinterher, „Ich muss meine Waffe holen."

„Gut."

Wir trennten uns.
Im Schatten der Häuser lief ich heim und rannte die Leiter nach oben, fiel aber fast wieder hinunter. Arthur stand vor mir, meinen Degen in der Hand.
Er grinste.
„Ich wusste, dass du herkommen würdest, Vicky."
Keiner von uns sagte etwas. Wir blickten uns an, während ich versuchte darauf zu kommen, was hier gerade vor sich ging.
Als Arthur merkte, dass ich nichts sagen würde, ergriff er das Wort: „Du wolltest diesen Degen holen, nicht wahr? Er ist sehr leicht, liegt gut in der Hand. Vicky, warum bist du mit dem Piraten gegangen?"
„Das habe ich dir bereits gesagt, weil sonst niemand nach Henry sucht", antwortete ich bissig.
Mittlerweile müsste er das mal verstehen. Wenn niemand sonst nach meinem Bruder suchte, musste ich es nun mal machen. So war es eben. Arthur aber schüttelte den Kopf und verankerte seinen Blick in meinem.

„Nein", sagte er knapp.

„Selbstverständlich. Warum sollte ich sonst mit Jim... James White gegangen sein?", erwiderte ich.

„Victoria, bitte", sagte mein Bruder, als wäre ich schwer von Begriff, „Ich kenne diese Männer wie ihn. Und ich kenne Mädchen wie dich, unverheiratet, leicht zu beeindrucken. Du bist nicht wirklich wegen Henry weggegangen, sondern wegen diesem Piraten, warum auch nicht, immerhin sieht er lobenswert aus. Aber ich glaube, was du aus dem Auge verlierst, ist, dass er eben immer noch ein Pirat ist. Ein Dieb, ein Mörder. Ein Frauenverführer. Ich möchte nicht, dass er dich entehrt."

Ich schnaubte und verdrehte die Augen.

„Seit wann interessiert es dich, was ich tue oder lasse?", spuckte ich förmlich aus.


„Es geht um die Familienehre, aber bei deinem Blick, ist es für die Rettung dieser wohl schon zu spät. Wie oft hast du mit ihm das Bett geteilt?", provozierte er mich, mit Erfolg. Ich musste mich schwer zusammenreißen, um nicht auf ihn loszugehen.

„Das geht dich nichts an! Gar nichts!"

Arthur ging bedrohlich auf mich zu.

„Du bist widerspenstig geworden, Schwesterchen. Eine richtige Piratin. Dein Verführer wäre stolz auf dich. Es hat mir fast leidgetan, als ich dir das Zeichen eingebrannt habe, aber jetzt ist es nur gerechtfertigt."

„Wo wir gerade von gerechtfertigt sprechen", warf ich ein, „Du musst doch furchtbar enttäuscht sein, dass ich nicht hingerichtet wurde."

Arthur lachte wieder.

„Ich bin nicht enttäuscht. Im Gegenteil, ich bin fast froh darüber. Das Erhängen ist so ein furchtbar gnädiger Tod. Die Male, die du mit diesem Piraten das Bett geteilt hast, und noch teilen wirst, werden nicht ohne Folgen bleiben. In neun Monaten wirst du ein Kind bekommen, aber du wirst nicht mehr in diese Stadt zurückkehren können und ohne eine Hebamme sinken deine Überlebenschancen erheblich. Eigentlich bin ich nur hier, um mich von dir zu verabschieden."

Mit diesen Worten rammte er den Degen zwischen uns in die losen Dielen. Mit riesigen Augen sah ich ihn an.

„Verschwinde! Sonst überlege ich es mir anders." Ich packte den Degen, stolperte einige Schritte zurück und fiel fast die Leiter nach unten. Arthur hatte mich laufen lassen, er hatte mich nicht verpfiffen oder eigenhändig umgebracht.


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