Kapitel 1 - James White

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Das Dach brannte.
Sofort rannte ich aus dem Haus und zog meinen Degen. Menschen rannten schreiend umher. Die halbe Stadt stand lichterloh in Flammen. Im Hafen zeichnete sich der schwarze Schatten eines Schiffes ab. Die Piraten raubten jedes Jahr unser Dorf aus.
Gemeinsam mit den Männern rannte ich in den Hafen, bis mich jemand am Arm packte und zurückzog.

„Victoria! Verschwinde, das ist zu gefährlich!"

Henry, mein Bruder, sah mich fassungslos an. Wütend riss ich mich los.
„Ich weiß am besten, was für mich gefährlich ist!", brüllte ich gegen den Lärm an.
„Nein, das tust du nicht", widersprach mein Bruder.

Er packte mich erneut und zog mich in unsere Schmiede. Ich stolperte und hörte, wie er die Tür verriegelte.

Die Schmiede hatte keine Fenster, aber dafür gab es jede Menge Werkzeug, mit dem ich mich nach draußen kämpfen konnte.
Wütend darüber, dass mein Bruder mich hier eingesperrt hatte, rammte ich meinen Degen in eine hölzerne Säule und ich holte die Axt aus der hinteren Ecke und schlug auf die Tür ein. Das Holz splitterte und ich konnte auf die Straße sehen. Dann hatte ich ein Messer vor Augen und wich zurück. Dabei blieb dummer Weise die Axt im Holz stecken.
Quietschend öffnete sich die Tür.

Ein junger Mann trat ein. Das Messer hielt er weiter auf meinen Kopf gerichtet. Seine Augen waren leuchtend blau. Er blickte einmal nervös hinter sich, dann kam er schnellen Schrittes auf mich zu und schob mich in die dunkelste Ecke der Schmiede, in der keinerlei mögliche Waffen hingen. Er hielt mir das Messer an die Kehle.

Was würde er mit mir machen? Würde er mich umbringen, hier und jetzt?
Ja, natürlich würde er das.
„Ich möchte, dass du mir jetzt deinen Namen sagst", verlangte er mit tiefer ruhiger Stimme. Warum sollte ich einem Piraten meinen Namen sagen? Ich schwieg.
„Ich warte", sagte der Pirat.

Meine Knie begannen zu zittern und eine Träne rollte meine Wange hinunter. Ich wollte nicht sterben. Nicht jetzt. Ich war doch gerade einmal 20 Jahre alt.

„Mein Name ist...", flüsterte ich und der Mann neigte den Kopf zum meinen Lippen, um meinen Namen zu verstehen, „Victoria... Smith."
Der Pirat nahm die Waffe ein Stück von meinem Hals. Sofort sackte mein Kopf zur Seite weg. Dann zwangen mich warme, starke Finger ihn anzusehen.

„James White. Ich habe nicht vor, dich zu erstechen. Ich möchte, dass du dir meinen Namen und mein Gesicht merkst und weißt, wofür du das nutzen kannst. Und merk dir diese Fragen: Was machen sie mit meines gleichen? Wie viel Zeit bleibt dir? Was kann ich, im Gegensatz zu den meisten Menschen in dieser Stadt? Das kann dir helfen. Und jetzt sieh mich an", sagte er schnell.

„Das tue ich", flüsterte ich.
„Nein, sieh mich so an, dass du mein Gesicht nie mehr vergisst. So, dass du mich erkennst und weißt, was zu tun ist", widersprach James White.
Ich sah in seine blauen Augen, betrachtete seine gerade schmale Nase und die schmalen aber vollen Lippen. Ich betrachtete die Bartstoppeln an seinem Kinn und die Schulterlangen blonden Haare. Die hohen Wangenknochen und die dichten Augenbrauen.
Als er mit meiner Betrachtung zufrieden war, wich er von mir zurück ging zu der Säule, in der mein Degen steckte und zog ihn heraus.

„Ein hübscher Degen. Deiner, Victoria?", fragte James.

Vorsichtig nickte ich.
„Ich nehme ihn vorerst an mich. Einfach um dir noch einen Grund zu geben, mich zu suchen."
Nein. Nicht meinen Degen. Er war meine einzige Waffe. Mein Vater hatte ihn mir geschmiedet, als ich noch ein Kind war.

Wenn ich doch nur in der Lage gewesen wäre, etwas anderes zu tun, als bloß dumm zu glotzen.

James tippte an einen imaginären Hut, ehe er durch die Tür verschwand. Es dauerte eine Weile, bis ich mich wieder bewegen konnte, doch dann rannte ich zur Tür und blickte auf die Straße. Hinter mir hörte ich eine Stimme: „Es tut mir leid."
Dann wurde alles schwarz.

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