》Kapitel 42《

41 4 0
                                    

Der kalte Regen prasselte auf den roten Regenschirm einer verzweifelten jungen Frau. Sie stand vor der Tür der einzigen Kneipe weit und breit - geschlossen. Es fühlte sich wie ein Schlag ins Gesicht an auf dieses Schild zu sehen und erkennen zu müssen verloren zu haben. Der Wind blies den Regen mitten in ihr Gesicht und verwischte den eben noch so sorgfältig gezogenen Lidstrich. Sie sollte anscheinend  nicht hier bleiben, also ging sie weiter. 


Es war ein seltsames Ritual, welches sie seit unzähligen Tagen ausführte, als würde sie hoffen, dass es irgendwann anders käme. Lidstrich, Kneipe, Friedhof. Wie in Trance lief sie zu dem Grabstein, den sie schon so oft besucht hatte. Er war nicht besonders teuer gewesen und eigentlich wurde er der Person zu der er gehörte gar nicht gerecht. Jedenfalls dachte sie das. Eine kleine schäbige Steinplatte, die sich seine Eltern und ein paar seiner Freund leisten konnten, viel mehr war dieses Grab nicht. Sie dachte oft über das nach, was in den Stein gemeißelt war. Eine Lüge war es, nicht mehr und nicht weniger. „Wir werden dich nie vergessen.", war kein besonders kreativer Spruch.

Dazu kam, dass eine Person ihn schon sicher vergessen hatte und wenn nicht, dann bereute sie hoffentlich was sie getan hatte. Jasmin, Jasmin, Jasmin. Auf seiner Beerdigung fragte jeder nach dieser verdammten Hexe. Sie hatte ihn ja schließlich gefunden und musste unter Schock stehen oder in tiefer Trauer über ihren besten Freund versinken. Sie tat anscheinend nichts von beidem, auch wenn ein bisschen Reue ihr nicht schaden würde. Sie war nicht dort gewesen, als er zu Grabe getragen wurde. Sie war nicht dort gewesen als seine Eltern und Freunde um ihn weinten. Sie war nicht dort gewesen, obwohl sie sich hätte stellen müssen. Sie musste bestraft werden, das stand fest. 
Es waren immer die gleichen Gedanken, die sie von Kneipe bis Grabstein beschäftigten. Jeden Tag wurde sie wütender und wütender auf dieses eine Mädchen, das nichts als den Tod mit sich brachte. Immer dasselbe Ritual. Jeden verdammten Tag. Bis zu dem Tag, an dem an Bens Grab ein Grablicht stand. Es stand nicht für ihn dort, denn außer ihr interessierte sich kaum noch jemand für ihn. Es stand für sie dort und sie wusste, dass dieses Licht für jemand anderen einen Schatten bedeutete. 

~*~

Alexandras Armreif reflektierte das Sonnenlicht und blendete Jasmin, als diese das Wohnzimmer betrat. Das Erscheinungsbild der wiedererweckten Hexe war äußerst Merkwürdig, aber wenigstens hatte sie sich dazu entschlossen etwas anzuziehen, anstatt erneut nackt durch das Apartment zu laufen. Sie saß auf der Küchenzeile, trank ihre morgendliche Falsche Wein und aß dazu das Obst, welches Marcus Männer gebracht hatten. Jasmin verstand nicht wie eine so kleine Frau so große Mengen Alkohol in sich hinein kippen konnte, ohne betrunken zu werden. 
„Ich habe mit Marcus geredet.", verkündete sie mit ihrem seltsamen Akzent. 
„Geredet.", wiederholte Jasmin und rollte mit den Augen. Reden hörte sich für sie aber anders an und enthielt deutlich weniger Schreien, Stöhnen und Möbel zerstören. Chloe hatte schon, aufgrund der Tatsache, dass sie nun Marcus und Alexandra nicht mehr ohne rot zu werden in die Augen blicken könnte, fluchtartig das Apartment verlassen und befand sich auf einer ausgiebigen Shoppingtour.  Alexandra lächelte bloß und biss genüsslich in eine Feige. 
„Du lernst Blutmagie.", entschied sie daraufhin und sprang auf den Boden. „Jetzt.", ergänzte sie ihren Satz und stellte sich vor Jasmin. Es war ja schön, dass diese Frau das tat, wofür Jasmin sie zurückgeholt hatte, aber die Art wie sie es tat war doch mehr seltsam als magisch. Anstatt ihr zu erzählen, was sie zu tun hatte, nahm sie Jasmins Hände, inspizierte sie mit einem kritischen Blick und leckte die linke ab. Jasmin zog angeekelt ihre Hand zurück und erntete einen verständnislosen Gesichtsausdruck. 
„Lange nicht gezaubert.", stellte Alexandra verwundert fest. Für sie schien es eine Abnormalität zu sein, die eigene Magie zu verlieren, aber das konnte Jasmin ihr nicht übel nehmen. 
„Ich hatte ein paar Probleme. Also hilfst du mir jetzt oder nicht?", fragte sie unsicher. 
„Blutmagie nicht einfach.", fing Alexandra an zu erzählen. Eine Tatsache, die Jasmin bereits bewusst war, aber sie wagte es nicht die Hexe zu unterbrechen, welche in einer Handbewegung zwei Vampire bezwingen konnte. „Du musst Kontrolle haben. Sonst du wirst kontrolliert." 
Jasmin schüttelte verwirrt den Kopf. Kontrolle hörte sich gut an, aber, dass Blutmagie tiefe Abgründe zu haben schien war beunruhigend. 
„Okay, also fangen wir doch mit die Göttern an, die ich für den Zauber rufen muss?", versuchte Jasmin diese seltsame Unterrichtsstunde in Gang zu kriegen. Zu ihrem Pech fing Alexandra auf diesen Satz hin an zu lachen. So hatte Jasmin sich das nicht vorgestellt. 
„Götter?", fragte sie mit Tränen in den Augen. 
„Naturgeister?", fragte Jasmin unsicher und erntete auch dieses Mal nur Gelächter. Doch als Alexandra sich langsam wieder eingekriegt hatte wurde ihre Stimme plötzlich tot ernst. 
„Götter, Geister, sogar Elemente sind gegen Blutmagie. Willst du Kontrolle, du musst sie vergessen."
Wie sollte eine einfache Hexe aus dem Dartmoor, die bisher keine besonderen magischen Errungenschaften vorzuweisen hatte, die Götter überwinden? Dass überhaupt eine Hexe jemals ohne die Unterstützung von Göttern, Naturgeistern oder Elementen praktiziert hat, erschien Jasmin höchst unwahrscheinlich. Und doch erzählte Alexandra, dass sie alles was sie jemals über Magie gelernt hatte vergessen sollte.
„Es kommt von dir.", versuchte die Hexe zu erklären und tippte dabei mit ihrem Zeigefinger gegen Jasmins Schlüsselbein. „Große Hexe braucht keine Götter. Willst du große Hexe sein?", faselte sie weiter und zog dabei mehrere Schubladen in Marcus offener Küche auf. Bevor Jasmin ihr antworten konnte hatte Alexandra bereits gefunden was sie suchte, ein großes, scharfes Küchenmesser. 
„Ich denke schon.", bejahte Jasmin die Frage und sah zu wie Alexandra wieder auf sie zu kam, die Klinge mit der Hand packte und sich selbst, ohne mit der Wimper zu zucken, tief in die Hand schnitt. „Ich sah was du kannst. Aber etwas hindert dich.", erklärte Alexandra mit ruhiger Stimme, nahm Jasmins Hand und schnitt auch diese auf. Zu ihrer Verwunderung tat der Schnitt kaum weh, wie bei einem Ritualdolch. 
„Deswegen will ich ja auch, dass du es mir beibringst.", erwiderte Jasmin und sah ihr Blut auf den Boden tropfen. 
„Du brauchst nicht lernen, was du kannst.", bemerkte Alexandra trocken. So sehr sich Jasmin auch anstrengte, wirklich erfolgreich war sie mit ihrer Blutmagie nicht und das wusste die alte Hexe ganz genau. 
„Warum kannst du es dann so gut, aber ich nicht.", fragte Jasmin schließlich verzweifelt. Alexandra sah sie mit ihrem kritischen Blick an. Dieses Scheitern hatte sie noch nie erlebt. Entweder jemand konnte die Blutmagie kontrollieren, oder starb am folgenden Zorn der Götter. Wenn die Götter sie also kontrollieren wollten, wäre es unwahrscheinlich, dass Jasmin noch lebte.  Trotzdem schien sie etwas zu blockieren und bei diesen eisernen Willen konnte es nicht sie selbst sein. 
„Etwas hindert dich.", wiederholte Alexandra, packte Jasmins blutende Hand mit ihrer und wisperte fremde Wörter, bis Jasmin sich selbst verloren hatte und ihr Geist für Alexandra offen war. 
Der Verstand dieser jungen Hexe war voll mit wirrem Zeug, das vermutlich jede Hexe verwirrt hätte. Mit dem meisten konnte Alexandra nicht viel anfangen, eine Sache allerdings kam ihr sehr merkwürdig vor. Wenn sie wollte, konnte sie jede Erinnerung, jede einzelne Sekunde des Lebens einer Hexe Revue passieren lassen, nur bei Jasmin schien es kaum etwas magisches zu geben, was sich in ihrer Seele festgesetzt hatte. Sie suchte nach Zaubern, die Jasmin einmal gesprochen hatte, aber die wenigen, die sie fand, konnte sie keinem Gott zuordnen. 
„Welche Götter betet dein Zirkel an?"
„Die keltischen.", antwortete Jasmin völlig in Trance. Alexandra wiederum schüttelte den Kopf. Sie ging tiefer, suchte weiter, aber von keltischen Göttern fand sie nichts. Allenfalls eine schlechte Erinnerung an ein Opferritual, aber da hatte Jasmin keine Verbindung zu den Göttern hergestellt. Kurz danach folgte eine große schwarze Lücke und danach nur noch Chaos. Normalerweise hätte sie die Götter finden müssen, die Jasmin blockierten. Aber sie konnte beim besten Willen keinen Gott finden, der Jasmin jemals seine Magie geschenkt hätte. Sie fluchte leise vor sich hin. Es konnte nicht sein, dass Marcus sie für die mächtigste Hexe der Welt hielt und sie nicht einmal in der Lage war einen Einblick in Jasmins Seele zu bekommen. 
„Und welche Götter sind deine? Sag nicht keltisch.", fragte sie weiter. 
„Die römischen.", antwortete Jasmin, die immer noch nicht Herrin ihrer Gedanken war. 
„Nein.", bemerkte Alexandra trocken und ließ nicht von Jasmin ab, sie war die erste Hexe, die jemals eine Herausforderung für sie darstellte. Unter anderen Umständen hätte sie diese Situation angespornt. „Also welche Götter?", fragte sie erneut. 
„Ich weiß es nicht, ich habe immer das gemacht, was meine Mutter mir beigebacht hat.", versuchte Jasmin zu erklären. Das war ein Anhaltspunkt, den Alexandra sehr wohl für sich zu nutzen wusste. Eine Hexe kennt ihre Götter schon von Geburt an. Ob sie diese Götter nun nutzt oder nicht, ob sie sich gegen sie wendet oder sich mit ihnen arrangiert ist eine komplett andere Sache. Wenn eine Hexe ihre Götter nicht kannte war das ein Umstand der besonderen Art. Vielleicht war diese kleine Hexe mehr, als man ihr ansah. Es war schon lange her, dass Alexandra eine wie sie getroffen hatte und die meisten von ihnen waren keinesfalls so erfolgreich wie Jasmin gewesen. Zugegeben, die meisten von ihnen starben auch immer recht schnell.  Sie ließ Jasmins Hand los und strich über ihre Wunde, die gleich darauf heilte. 
„Du bist gottlos.", erkannte Alexandra lächelnd, was allerdings noch nicht erklärte, wieso Jasmin so unfassbar schlecht darin war die Blutmagie zu lernen. 
„Was soll das denn jetzt bedeuten?"
„Das bedeutet, du hast keinen Gott. Ich denke du bist besessen."

Was folgte war ein Schreien. Ein qualvolles, angsterfülltes Schreien, das Jonathan aus seinem Schlaf weckte. Was auch immer Alexandra mit Jasmin machte, es war nicht das was er erwartet hatte. Er blickte auf die Uhr, es war mitten am Tag. Jasmins Schreie dröhnten in seinen Ohren und es gab nichts was er dagegen machen konnte. Die Tür zu öffnen und versuchen ihr zu helfen wäre ein Himmelfahrtskommando. Auch nur eine Sekunde zu lang bei Tageslicht und er würde ihr nie wieder helfen können. 
„Ein Glück, dass meine Wände Schalldicht sind. Was würden die Nachbarn sonst wohl denken?", jammerte Marcus, der ebenfalls geweckt worden war. Seit dem die beiden Mädchen sein Schlafzimmer bezogen hatten, musste er sich den einzigen anderen vor Sonne sicheren Raum mit Jonathan teilen. Eine Situation, die ihn nicht unbedingt glücklich machte.
„Das ist nicht ernsthaft dein Problem? Was zur Hölle macht Alexandra mit ihr?", fragte Jonathan wütend und fing an den Raum auf und ab zu laufen. 
„Ich habe ihr gesagt, sie soll Jasmin die Blutmagie beibringen. Wahrscheinlich ist es einfach komplizierter, als wir es uns vorgestellt haben.", erklärte Marcus gleichgültig, drehte sich um und versuchte wieder einzuschlafen. Was auch immer die beiden Hexen dort machten, es war nicht sein Problem und es würde auch sicherlich nicht so schnell sein Problem werden. Jedenfalls nicht so lange er es verhindern könnte. 
„Wie kann sie dir so egal sein?", schrie Jonathan ihn wütend an. Ihm war bewusste, dass Jasmin für ihn nur ein Mittel zum Zweck war. Trotzdem konnte er nicht verstehen, warum Marcus sich dann nicht im Geringsten dafür interessierte was grade mit der Hexe passierte, die für seine weiteren Pläne so wichtig sein sollte. 
„Wie kann sie dir nur so wichtig sein, John? Du weißt wie es mit dir und der letzten Hexe ausging. Hast du daraus nichts gelernt?", faselte Marcus im Halbschlaf. 
„Was meinst du damit?"
„Jeden Mal, wenn dir eine Hexe zu wichtig wird, stirbt sie. Das kann doch kein Zufall sein."
Jonathan schaute seinen Erschaffer perplex an. Wenn er so darüber nachdachte hatte Marcus Recht, aber er wollte einfach nicht glauben, dass das an ihm liegen könnte. Noch bevor er sich eine Antwort für Marcus überlegen konnte, bemerkte er, dass die Schreie aufgehört hatten. Kurz darauf spürte er den brennenden Schmerz, den ein Sonnenstrahl verursachte. Er flüchtete sich in eine der dunkleren Ecken und erkannte, dass Alexandra die Tür weit aufgerissen hatte und nun Jasmins schwachen, nahezu leblosen Körper in den Raum zu schleifen versuchte. Sie war ganz schön stark dafür, dass sie so klein war. Ihr Fuß trat die Tür wieder zu, sodass Jonathan Jasmin noch auffangen konnte, bevor Alexandra sie wie einen nassen Sack auf den Boden fallen ließ. 
„Was hast du mit ihr gemacht?", fragte er voller Entsetzen und stellte dennoch beruhigt fest, dass sie einen Herzschlag hatte, wenn auch nur einen schwachen. 
„Jetzt sie kann Blutmagie.", verkündete Alexandra mit hartem und bestimmten Ton, riss die Tür wieder auf und verließ den Raum.

𝐓𝐡𝐞 𝐩𝐚𝐜𝐭Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt