Ansicht: CEM 》1

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"Cengiz, hilf doch mal mit!" sage ich genervt, während er mir zum fünften Mal ein Karton vor die Nase hält.
"Sei leise! Ich bin der Älteste."
"Du sollst es für unsere Mutter tun! Sie soll nicht so schwer tragen und Azra kann eh nicht mithelfen!" Azra, meine kleine zweijährige Schwester und Cengiz? Mein Nachbar. Spaß bei Seite! Cengiz ist mein 20 Jahre alter Bruder. Mittendrin bin ich mit meinen siebzehn Jahren. Mein Name ist Cem Rico Sari. Komischer Name? Kann sein. Ich bin halb Spanier und halb Türke. Meine Mutter kommt aus Galizien und mein Vater aus einem Dorf in der Nähe von Istanbul. Obwohl mein Vater Türke ist, kann ich nur spanisch. Mein Vater wollte mir schon immer türkisch beibringen, doch meine Mutter - wie es eben meistens üblich war - hat die meiste Erziehungsarbeit geleistet. Vor einer Woche haben sich meine Eltern auch grundlos getrennt. Okay, was heißt schon grundlos? Ich kenne den Grund nur nicht.
Wir haben alle zusammen in München gelebt. Doch jetzt, von heute auf morgen, waren die Worte meiner Mutter: "Packt eure Sachen, wir ziehen um." Und das ist auch der Grund, weshalb wir (besser gesagt nur ich) schwere Kartons in den dritten Stock eines Hochhauses, mitten in Ulm, tragen.
"Wenn du mithilfst, sind wir schneller fertig", protestiere ich.
"Und wer soll dann auf Azra aufpassen?"
Ich schaue zu meiner Schwester, die singend auf den Boden sitzt und mit einem Stein in den Boden kratzt. "Steh auf, Azra", sage ich und laufe auf sie zu. "Sonst bekommst du noch Ärger von Mama." Ich hebe sie hoch und sie grinst mich mit ihren kleinen Zähnen an. "Ich pass jetzt auf Azra auf, du kannst weiter machen."
"Nein! Ihr beide macht weiter und ich gehe mit Azra einkaufen." höre ich meine Mutter im Treppenhaus hallen und keine Sekunde später taucht sie auch auf und nimmt mir meine Schwester aus den Armen.
Seufzend nehme ich einen Karton, der sich wie Tonnen anfühlen und laufe die Treppen hoch. Als ich im Augenwinkel jemanden sehe, schaue ich nach oben und blicke in dunkelbraune, fast schwarze Augen. Das Mädchen mit den langen dunklen Haaren bringt mich so aus der Fassung, dass ich stolpere. Schnell stütze ich mich an dem Karton ab, als ich ihn neben ihren Füßen fallen lasse. "Pass doch auf!" jammert sie sofort rum und ich blicke zu ihr hoch: "Du könntest auch helfen."
"Seh ich etwa so aus, als würde ich schwere Dinge tragen?"
"Oh Prinzessin", ich rapple mich wieder auf und stelle mich die Stufe vor ihr ganz auf: "Dann überanstreng dich mal nicht, wenn du dein Gewicht auf deinen Beinen trägst."
"Halt die Schnauze." sie versucht an mir vorbeizulaufen, doch ich stelle mich im Weg. "Ich bin Cem und du?" - "Mach nur deine Arbeit und lass mich in Ruhe."
"Welche Arbeit?" frage ich. "Ich ziehe hier ein!"
Sie bleibt kurz stehen, schaut mich angewidert an, seufzt und zieht an mir vorbei nach unten. In diesem Moment kommt Cengiz nach oben. Er schaut mich mit seinen stahlblauen Augen an und fragt: "Was ist hier los?"
"Prinzessin denkt wir sind nur irgendwelche Arbeiter. " antworte ich schlaff und blicke dabei nach unten, damit sie auch meine Worte noch hallen hört.
"Prinzessin?" fragt mich Cengiz verwirrt. "War schön dich kennen zu lernen!" schreie ich noch hinter her und füge rasch noch ein: "Prinzessin!" dazu. Mein Bruder schaut mich noch immer fragend an, schüttelt dennoch seinen Kopf und sagt nur noch: "Lauf jetzt!"

Als meine Mutter am Abend mit Azra wieder nach Hause kommt, helfen Cengiz und ich ihr ein paar Sachen einzuräumen. Wir sind zwar noch nicht fertig, aber den Rest bekommen wir auch noch im Laufe der Woche hin.
"Du gehst morgen schon in die Schule. Ich hoffe für dich, dass du diesmal gute Noten schreibst. Du brauchst einen sauberen Abschluss und hast nur noch zwei Jahre vor dir. Diese zwei Jahre werden-"
"Mama, hör mir kurz zu!" Unterbreche ich sie, jetzt fängt das ganze wieder von vorne an. Wer kennt das nicht? Die Moralpredigen seiner eigenen Mutter.
"Nein, Cem! Du hörst mir zu!" unterbricht sie mich und flüstert weiter: " Du brauchst dein Abitur. Wenn dein Bruder es mit einem Hauptschulabschluss nicht schafft einen Job zu finden, dann sorg du dich wenigstens um das Geld in diesem Haus!"
"Keine Angst, Mama. Ich verspreche es dir, okay? Aus mir wird mal was werden und ich werde mich bessern. Ich weiß, du willst nur das Gute für mich und das schätze ich. Ich werde mir einen Teilzeitjob suchen und nach der Schule arbeiten. Ich weiß, wir haben kein Geld. Ich kann ja für uns sorgen." Ständig das gleiche. Ich versuche mir Mühe zu geben es auch umzusetzen. Aber bevor meine Mutter völlig eskaliert, gebe ich ihre leere Versprechungen mit einem winzigen Fünkchen Hoffnung.
Meine Mutter fängt an zu lächeln und ich sehe wie ihr langsam eine Träne über die Wange rollt. In diesem Moment kommt Cengiz in die Küche. "Was ist hier los? Mama, alles okay?"
Sie wischt sich die Träne aus dem Gesicht: "Cengiz, ich möchte, dass du dir endlich eine Arbeitsstelle suchst! Das ist ein Neuanfang für uns alle."
Ich verlasse die Küche und gehe ins Schlafzimmer meiner Mutter, als sie anfängt nun Cengiz eine Predigt zu halten. Spanische Mütter, Temperament hoch zehn. Ich öffne leise die Türe und sehe Azra schlafend im Bett liegen. Ich schleiche mich zu ihr hin und gebe ihr einen Kuss auf die Stirn: "Ich werde alles für dich tun, mein Engel."
***
"Cem! Cem! Steh auf! Wir haben verschlafen!" ich drehe mich dennoch auf die andere Seite und möchte weiterschlafen, doch das passt Cengiz ganz und gar nicht. Er macht das Licht an und zieht mir meine Decke weg. "Steh jetzt auf! Mama wird uns noch umrbingen!" Ich drehe mich zu Cengiz und falle zu Boden. Sofort bin ich hellwach. "Zieh dich an! Na los! Mach schon!" er schmeisst mir ein paar Klamotten ins Gesicht und verschwindet.

Geheimnisvolle LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt