Der Mond stand schon lange am nächtlichen Himmel. Sein helles Licht ließ den Schnee selbst auf dem Waldboden glitzern. Und es offenbarte die dunklen Flecken, die das Weiß verschmutzten. Die Spuren des Blutes. Jenes Blut, das ich vergossen hatte. Das jetzt an meinen Händen klebte, auch wenn es das augenscheinlich nicht tat. Jenes Blut, das vor wenigen Stunden noch in den Adern eines Menschen pulsiert hatte. Das tat es jetzt nicht mehr. Nie wieder. Ich hatte es getan. Willentlich und im vollem Bewusstsein. Ich hätte gehen können. Ich hätte irgendein Tier jagen können. So wie ich es schon immer getan hatte. So wie man es mir beigebracht hatte. Aber ich hatte die Regeln ignoriert, meine Erziehung, meine Familie... alles.
In diesen Stunden saß ich im Schnee. Ein paar Schneeflocken suchten ihren Weg durch die kahlen Zweige der Laubbäume über mir und alle, die nicht von grünen Tannen aufgefangen wurden, landeten auf dem Waldboden. Oder auf mir. Oder auf ihr. Ich drehte meinen Kopf zu dem leblosen Körper, der zwei Meter von mir entfernt auf dem Boden lag.
Ich hatte es schnell erledigt. Wahrscheinlich hatte sie gar nicht richtig realisiert, was passiert war. Als ich sie in den Wald gezogen hatte, hatten sich meine Zähne schon in ihre Haut gebohrt. Ihr Fahrrad lag noch immer am Wegesrand. Sie war voll bekleidet und hatte eine Bisswunde am Hals. Ich ließ es so aussehen, als hätte ein Tier sie angefallen. Niemand würde es für eine Straftat halten. Wie man Leichen aus dem Weg räumt, hatte man mir nie beigebracht. Meine Familie hatte wahrscheinlich die feste Überzeugung gehabt, dies wäre nie von Nöten. Ich nahm mir fest vor, dass niemals irgendjemand davon erfahren würde. Niemals. Nicht mal – oder besser – ganz besonders nicht meine Schwester. Oh, Mariella. Was würde sie denken, was würde sie sagen, was tun, wenn sie davon erfahren würde? Sie würde mir nie wieder in die Augen sehen, denn dieses Mal, hatte man mich nicht dazu gezwungen. Ich hatte es selbst gewählt. Und ich musste nun mit meiner Entscheidung leben.
Ich blieb noch einige Tage meinem Zuhause fern, damit sich der Geruch verflüchtigen konnte. Oder dem, was mal mein Zuhause gewesen war. Denn nie zuvor hatte ich mehr Angst gehabt, nach Hause zu kommen. Wie konnte ich, als ich durch meine Klappe eintrat, wissen, dass ich bald mit einer noch viel viel größeren Angst heimkehren würde?
Ich war mir sicher, dass meine Familie bereits von meiner Rückkehr wusste, also eilte ich schnell ins Bad, um mir neue Kontaktlinsen einzusetzen. Ich sah mich noch kurz mit grünen Augen im Spiegel an, dann trat ich aus dem Badezimmer. Ich hatte gerade die Tür geöffnet, da sprang mir meine Schwester schon an den Hals, und ich taumelte ein wenig zurück.
„Du bist wieder da“, murmelte sie, den Kopf an meine Brust gedrückt. Ich setzte sie wieder ab. „Ja“, antwortete ich knapp.
„Mum macht sich solche Vorwürfe“, fuhr Mariella zittrig fort. „Sie hat tagelang nicht mit Dad geredet, weil er so fies zu dir war.“
„Schon okay. Ich weiß ja, was er von mir hält.“
„Anthony“, flüsterte meine Schwester.
Ich ging an ihr vorbei; die Treppe ins Erdgeschoss hinauf. Meine Mutter stand bereits im Flur und wartete auf mich. Sie trug eine hellblaue Bluse und eine weiße Hose. Ihre Augen waren glasig, und sie unterdrückte die aufsteigenden Tränen, als sie langsam auf mich zuging und mich schließlich ebenfalls umarmte. Ich legte einen Arm um sie, den anderen legte ich auf ihr schönes bronzefarbenes Haar. Ich schloss die Augen und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Meine Mutter schluchzte. Ich legte meinen Kopf auf den ihren und drückte sie sanft etwas enger an mich. Wenn sie erfahren würde, was ich wenige Tage zuvor im Wald getan hatte, würde sie mich nie wieder so umarmen. Ich sog diesen Moment in mich auf wie ein Schwamm das Wasser und wollte die Zeit anhalten.
Am Abend desselben Tages saß ich gerade Wohnzimmer und zappte wahllos durch die Programme, ohne länger als drei Sekunden bei einem zu bleiben. Irgendwie hatte ich Angst, in den Nachrichten von dem mysteriösen Tod eines Mädchens zu hören. Aber sie hatten sie wahrscheinlich schon lang gefunden und entweder war ihr Tod dann doch zu unspektakulär, um im Fernsehen erwähnt zu werden, oder aber man hatte diese Meldung schon gebracht.
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Blood Moon - Biss in alle Ewigkeit (Fanfiction)
FanfictionFortsetzung meiner Fanfiction "Rising Sun - Biss das Licht der Sonne erstrahlt": 30 Jahre sind seit der Hochzeit von Renesmee und Jacob vergangen. Bellas und Renesmees Leben könnten kaum schöner sein, haben sie doch alles, was sie sich erträumten u...