[Mariella] Erkenntnisse (Teil 2)

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Hier kommt der zweite Teil des vierten Kapitels. Dieser ist nun aus Mariella's Sicht. Ich wünsche euch viel Spaß und freue mich auf eure Kommentare. =)

 „Mariella“, sagte mein Bruder lächelnd. Er wirkte unsicher. Ich umarmte ihn zaghaft und versuchte mein Zittern mit aller Kraft zu verbergen, als ich ihm über den Rücken strich, so wie ich es immer tat. 

„Ani“, sagte ich, um die drückende Stille, die für einen Moment zwischen uns geherrscht hatte, zu brechen. „Schön, dass du wieder hier bist.“
Ich vermisste meinen kleinen großen Bruder so sehr, dass es mir schon im Herzen wehtat und wünschte mir nichts sehnlicher als eine heile Familie. Nun war dieser Wunsch von einem Moment auf den nächsten in unerreichbare Sphären katapultiert worden. Ich zwang mir dennoch ein Lächeln ins Gesicht.

Am nächsten Tag stand ich müde am Fenster und sah der Sonne beim Aufgehen zu. Die zaghaften Strahlen, die sie trotz der kalten Wintermonate auf den Boden warf, ließen meine Haut glitzern wie den Schnee vor unserer Tür. Der Winter in Irland war deutlich kälter und länger als in den Staaten. Ja, damals waren wir noch glücklich gewesen. Man mochte glauben, der Reichtum in unserem Besitz und ewige Jugend reichten aus, um glücklich zu sein, aber dazu zählte weit mehr als das. Manchmal war eine kleine Familie in einem Reihenhäuschen irgendwo auf dem Land oder in einer kleinen Stadt reicher als wir.
Immer wieder und wieder kamen mir die Bilder des gestrigen Tages in den Sinn. Wie ich seine Ankunft gespürt hatte und hinunter in den Keller gegangen war. Meine Schritte über den gefliesten Boden. Und dann, wie ich das Licht im Bad bemerkte und erwartungsfroh durch den Türspalt sah – und beobachtete, wie mein Bruder seine Kontaktlinsen in seine Augen setzte.
Der Mord an dem Mädchen war schon viel zu lange her, seine Augen mussten ihre ursprüngliche Farbe längst wieder angenommen haben. Es gab nur eine Möglichkeit, warum sie es nicht getan haben sollten: Er hatte gar nicht aufgehört das Blut zu trinken. Plötzlich ergab alles einen Sinn, seine lange Abwesenheit, seine Zurückhaltung. Er hatte sich von uns ferngehalten, damit wir es nicht bemerkten. Ich strich mir über die Stirn. Ich kam mir so dumm vor. Ich kannte ihn so gut, wie ihn sonst keiner kannte. Warum hatte ich es nicht bemerkt? Warum hatte ich es nicht erkannt? Warum hatte ich ihm nicht geholfen?
Und was konnte ich jetzt noch tun, um ihm zu helfen? Würde er damit aufhören, wenn ich ihn darum bat? Ich war mir eigentlich recht sicher, dass er es versuchen würde. Ob er es allerdings schaffen würde, konnte ich nicht sagen. Wahrscheinlich nicht allein. Nein, nicht allein. Wenn ich es für mich behielt, würde ich damit nicht fertig werden. Ich müsste das Geheimnis ebenfalls für mich behalten, dazu würde er mich zwingen, und das würde ich nicht schaffen. Meine Familie würde helfen können. Gemeinsam würden wir es schaffen, meinem Bruder zu helfen. Carlisle kannte sich damit aus, Vampire zur vegetarischen Lebensweise zu verhelfen. Ich ballte die Fäuste zusammen. Ich war mir sicher, er würde helfen können. Einen Moment überlegte ich, ob ich Will anrufen sollte. Aber der war mit seiner schwangeren Frau sicher genug beschäftigt, außerdem würde Ani genauso wenig auf Will hören wie auf unseren Vater.

Am Nachmittag ging ich zu Urgroßvater ins Arbeitszimmer. Er saß gerade über einem Buch. Draußen begann es wieder zu dämmern, daher hatte er die Leselampe eingeschaltet. Als ich jedoch eintrat, sah er sofort auf, lächelte mich sanft an und schien seine ganze Aufmerksamkeit schlagartig auf seinen Besuch ausgerichtet zu haben.
„Hallo, Mariella“, sagte er freundlich.
„Hi“, sagte ich und lächelte kurz.
Carlisle legte die Hände auf dem Schreibtisch übereinander. „Was kann ich für dich tun?“
Ich suchte nach den richtigen Worten. „Nun... ich... ich hab da so eine Vermutung... es ist nicht besonders schön und... na ja...“
„Ja?“, hakte mein Urgroßvater ruhig nach.
„Es geht um Ani“, nannte ich das Kind nun beim Namen. „Ich hab gestern zufällig gesehen, wie er seine Kontaktlinsen eingesetzt hat.“
Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, doch er wirkte noch immer sehr gelassen und ruhig.
„Ist es möglich, dass seine Augenfarbe sich langsamer regeneriert?“, fragte ich hoffnungsvoll.
Carlisle schüttelte sanft den Kopf und lächelte nun wieder zaghaft. Ich wusste, er versuchte sein Arztlächeln aufrecht zu erhalten, aber ich erkannte trotzdem Bitterkeit darin.
„Oder oder... vielleicht hat er was von den Blutkonserven im Keller getrunken?“
Wieder ein Kopfschütteln. „Die sind noch alle an Ort und Stelle.“
„Dann vielleicht von wo anders?“
Carlisle seufzte. „Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.“

Während mein Urgroßvater die Familie zusammenrief und versuchte, sie auf das Kommende vorzubereiten, ging ich schweren Herzens in den Keller und sah nach meinem Bruder. Er lag auf dem Bett, und als ich näher kam, öffnete er langsam seine Lider.
„Hey, Ani“, sagte ich leise und setzte mich auf die Bettkante. Er sah mich müde an. Wahrscheinlich hatte er seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen. Er sah zwar nicht fit aus, aber ausnahmsweise war das für mich ein gutes Zeichen. Wenn er das Töten, sollte er es wirklich getan haben, nicht genoss, dann war die Wahrscheinlichkeit, ihn davon abbringen zu können, größer, als wenn er von seinem Handeln überzeugt war.
„Warst du den ganzen Tag hier?“, fragte ich.
Er nickte nur.
„Ich war mit Alice und Oma ein bisschen shoppen“, log ich.
„Und warst du erfolgreich?“, fragte er und lächelte dabei sanft.
„Na ja, du kennst doch Alice. Die findet immer was.“
Er musterte mich kurz, dann sah er wieder auf die Decke. „Das stimmt.“
Ich überlegte kurz, was ich als nächstes sagen könnte. Mir fiel nichts besseres ein, also schlug ich ein Thema an, das ihm weniger gefallen würde. „Es gibt gleich Abendbrot. Möchtest du auch?“
Jetzt sah er mich wieder an. Er machte den Eindruck, als würde er abwägen, was er antworten sollte. Ich ging davon aus, dass er wie immer verneinen würde, doch ich irrte mich.
„Ja, wieso nicht.“
„Oh“, sagte ich. „Soll ich... soll ich dir was runterbringen?“
Zweifel machten sich in mir breit. Hatte ich mich vielleicht doch verguckt? Oder wollte er nur zu Abend essen, um uns in Sicherheit zu wiegen? Meine Mundwinkel begannen langsam zu zittern. Es tat mir weh, dass ich die Gesinnung meines eigenen Bruders, den ich bis dato zu kennen geglaubt hatte, nicht wusste und darüber rätselte. Dass ich bei ihm tatsächlich auf die Idee kam, dass er so berechnend war und mich in falscher Sicherheit wiegen wollte.
Als ich eine Weile in Gedanken versunken nichts sagte, ergriff Anthony wieder das Wort. „Du kannst ruhig vorgehen. Ich komme gleich nach.“
Ich nickte und schenkte ihm erneut ein Lächeln, wobei ich aufpassen musste, nicht gleich loszuheulen. „Okay.“
Ich verließ sein Zimmer, schloss langsam die Tür hinter mir und ging in die Küche, wo Carlisle die Familie um unseren großen marmorierten Esstisch versammelt hatte. Ich bekam beim Betreten des Raumes nur Wortfetzen mit, aber offensichtlich, hatte er bereits erklärt, was los war.
„Nein, Jacob“, protestierte mein Edward. „Wenn du jetzt die Beherrschung verlierst, machst du alles kaputt.“
Mein Blick wanderte zu meinem Vater, der meinen Großvater, die Hände auf dem Tisch zitternd und zornig zu Fäusten geballt, anschaute. „Ich wüsste nicht, was es da noch kaputt zu machen gibt!“
„Mehr, als dir momentan bewusst ist“, meinte mein Urgroßvater. „Jasper, setz dich bitte neben Jacob.“
Jasper nickte und setzte sich neben meinen Dad, während meine Mum auf dessen anderer Seite saß. Ich bekam es mit der Angst zu tun, als sich plötzlich Emmett neben die Eingangstür stellte. Machten die sich hier auf ein Massaker gefasst?
„Mariella, kommst du?“, sagte Seth sanft. Seine Stimmte zu hören tat mir gut. Ich wüsste niemanden sonst, der mir in dieser furchtbaren Situation mehr hätte helfen können als mein geliebter Seth. Ich ging zu ihm, setzte mich auf den Stuhl zu seiner Linken und er nahm meine hellen Hände in seine rostroten und lächelte mich beruhigend an.
„Als du Renesmee kennengelernt hast, warst du dir vollkommen bewusst, was sie war. Dass du da keine menschlichen Kinder erwarten konntest, war dir doch ebenso bewusst, oder nicht?“, sagte mein Großvater erzürnt, jedoch immer noch sachlich. Als sie erwähnt wurde, warf ich einen Blick auf meine Mutter. Sie sah aus, als ginge sie gerade durchs Feuer, hatte eine Hand an die Stirn gelegt und stütze sich mit der anderen Müde am Tisch. Aus ihrem Gesicht war sämtliche Farbe gewichen und ihre Haare wirkten ungekämmt, weil sie sie dauernd nervös nach hinten strich. Ihre Augen waren glasig. Sie tat mir so leid, und ich wusste nicht, wie ich ihr helfen sollte.
„Schon“, konterte mein Vater. „Aber ich dachte eigentlich, nach dreißig Jahren hätte sich das Thema längst erledigt. Wenn er wenigstens von Anfang an so gewesen wäre, dass er erst jetzt so abgeht, zeigt doch nur, wie wenig Respekt er vor dem Leben anderer Leute hat!“
„Daddy“, versuchte ich ihn anzusprechen, doch er reagierte gar nicht auf mich.
„Wir haben ihm das SO sicher NICHT beigebracht!“, meinte er zornig und stand auf, während meine Mutter mehr und mehr in sich zusammensackte.
„DAD!“, brüllte ich jetzt quer über den Tisch. Alle Augen im Raum waren schlagartig auf mich gerichtet, selbst die dunklen Augen meines Vaters. „Siehst du nicht, wie schlecht es Mommy geht?“
Mein Dad sah sofort zu meiner Mutter hinunter, setzte sich wieder hin und legte seinen Arm um ihre Schultern. „Hey... Nessie...“, flüsterte er sanft. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Meine Mutter begann zu wimmern und zu schluchzen und brachte kaum ein ordentliches Wort heraus. Mein Vater drückte ihren Kopf an seine Brust und strich durch ihr bronzefarbenes Haar. „Sht... sht... nicht weinen, Nessie. Es wird alles wieder gut.“
„Was ist denn hier los?“
Die fünf Worte, aus dem Mund meines Bruders, ließen fast alle Blicke, die zuvor auf meine Eltern gerichtet waren, zur Tür umschwenken. Anthony sah in die Runde und blieb nun ebenfalls bei Mom und Dad hängen. Letzterer strich seiner Frau noch immer sanft über den Rücken. Als sie von seiner Brust aufsah und ihren Sohn mit tränenden Augen musterte, strich mein Vater einige Haare weg, die ihr im nassen Gesicht klebten. Erst dann wanderte sein Blick langsam zu Anthony.
„Anthony, schön, dass du hier bist, wir haben etwas Wichtiges zu besprechen“, meinte Urgroßvater sanft. Mein Bruder sah ihn nur mit einem skeptischen Blick an. Er spürte, dass etwas nicht stimme und obwohl er seine Haltung optisch nicht veränderte, bemerkte ich, wie er in Abwehrhaltung überging. „Möchtest du uns... vielleicht... irgendetwas sagen?“, fragte er weiter, doch mein Bruder schüttelte entschieden den Kopf.
„Nein, nichts.“
Aus der hinteren Ecke kam ein Stöhnen, das ganz offenbar unserem Vater zuzuschreiben war. „Aber offenbar ihr mir“, sagte Ani dann. „Was ist hier los? Ist was mit Mutter?“
Wieder meldete Dad sich zu Wort und schien sich dabei stark zurückhalten zu müssen. „Deiner Mutter ginge es bedeutend BESSER, wenn du nicht so ABDREHEN würdest!“
Anthony erwiderte gar nichts.
„Na, da verschlägt es aber jemandem die Sprache“, stichelte Dad weiter.
„Jacob“, mahnte Edward, doch mein Vater ignorierte auch ihn.
„Hättest du die Güte, uns nicht mehr länger zu verarschen?“ Der Geräuschpegel stieg kontinuierlich, während mein Vater weiter bohrte.
„Ich weiß nicht, was du meinst“, antwortete Anthony kühl.
„Oh doch, das weißt du ganz genau!“, schrie mein Vater nun. „Und jetzt nimm verdammt noch mal deine Kontaktlinsen raus!“
Und da war er, der Blick, den ich befürchtet hatte. Die Augen meines Bruders, die sich, ohne dass ein Wort seine Lippen verließ, auf mich richteten. Er brauchte nichts sagen. Es war schon alles gesagt. Ich wusste, er machte mich für diese Versammlung verantwortlich. Das Geschrei meines Vaters, die Sticheleien, alles meine Schuld. Die Tränen schossen mir in die Augen und Seth strich mir weiter über den Rücken.
Ani verleugnete sich nicht weiter. Mit wenigen Handgriffen hatte er die dünnen Linsen aus den Augen genommen, und als er die Augen anschließend wieder aufschlug, blickten zwei feuerrote Vampiraugen uns an.
Ein paar von uns senkten den Blick, Rosalie schürzte lediglich die Lippen, Alice schüttelte ungläubig den Kopf und meine Mutter begann erneut zu schluchzen. Einzig Emmett, Jasper, Carlisle, Seth und Edward blieben gelassen.
„Wie viele?“, fragte Letzterer ruhig. Die Möglichkeit, dass er zu Blutkonserven gegriffen hatte, schien bereits vom Tisch zu sein, bevor ich mich richtig an sie klammern konnte.
„Drei, das Mädchen aus Balinasloe eingeschlossen.“
„Was hast du mit den Leichen gemacht?“, fragte Großvater weiter.
„Nichts“, antwortete Ani, ohne einen von uns anzusehen. Sein Blick fixierte die Tischkante.
„Kanntest du die Opfer?“
„Eine kannte ich... ja.“
„Woher?“
„Sie war in meiner Parallelklasse.“
Wieder setzte sich ein Teil des Puzzles zusammen. Ich erinnerte mich, dass vor einigen Wochen eine Kollegin in der Bibliothek erzählt hatte, dass eine junge Schülerin tot in einem Waldstück gefunden wurde.
„Ich fass es nicht“, sagte mein Vater. Sein Ton hatte es Verächtliches. „Jetzt legst du schon deine Klassenkameraden um? Vor was machst du denn dann noch Halt, wenn du schon kleine Mädchen ermordest? Attackierst du uns vielleicht auch irgendwann?“
„Das würde ich nie tun, und das weißt du auch!“, protestierte mein Bruder.
„Ja... ja... ich glaubte mal, dass ich was über dich wüsste“, sprach mein Vater weiter und stand nun langsam auf. Während er auf meinen Bruder mit langsamen Schritten zuging, erhob sich auch Jasper und meine Mutter sah besorgt auf. Emmett, an der Tür, postierte sich ebenfalls.
„Aber spätestens jetzt“, fuhr Dad mit durchdringender fast flüsternder Stimme fort. „Weiß ich, dass ich nichts über dich weiß.“
Anthony hob langsam den Blick und seine roten Augen blickten in die dunklen unseres Vaters. „Va-“, setzte er an, wurde aber von einer ordentlichen Ohrfeige unterbrochen, kaum dass Dad nah genug herangekommen war. Mein Bruder taumelte nur kurz, dann stand er wieder felsenfest und sah Vater erschrocken an.
„Benutz dieses Wort nicht mehr für mich“, befahl er.
Mein Herz rutschte in die Hose. Etwas Schlimmeres hätte Vater für Anthony wohl kaum sagen können. Für ihn waren diese Wort weit schlimmer als ein Schlag ins Gesicht. Für ihn waren sie die Bestätigung dessen, was er immer befürchtet hatte. Und ich wusste genau, was jetzt kam. Was für eine Welle sich nun über uns aufbäumte und unser Familienleben überfluten würde, und ich wollte mich wie ein dicker Fels davor stemmen und sie abwehren, als ich blitzschnell aufstand und zu meinem Bruder laufen wollte. Doch im selben Moment sah ich, wie er zu flackern begann. Alle anderen sahen ihn jetzt nicht mehr, abgesehen von Großmutter und mir. Er hatte sich unsichtbar gemacht, sich umgedreht und den Raum eilig verlassen. Erschrocken blieb ich an der Stelle stehen, an der er eben noch gestanden hatte und blickte meinen Vater ungläubig an. Sein Gesicht war immer noch voller Zorn.
„Mariella“, sagte Bella nun. „Er will das Anwesen verlassen.“
Das war mein Stichwort. Ich rannte nur noch los, übersprang auf der Treppe fast alle Stufen und stürzte in sein Zimmer. Er hatte dort gerade eine große Schublade geschlossen und faltete nun ein Papier ohne mich anzusehen, ehe er es sich in die Jackentasche steckte.
„Was machst du da? Was hast du vor?“, fragte ich verzweifelt, obwohl ich genau wusste, was er da tat.
„Nach was sieht es denn aus?“, antwortete er enttäuscht und packte weiter seine Sachen.
„Nein, Ani! Bitte geh nicht!“, rief ich ihn verzweifelt an. „Das kann man doch alles klär'n!“
„Da gibt es nichts mehr zu klären. Du hast Jacob gehört.“
Ich hatte mir gerade noch ein Dutzend Bitten und Flehen überlegt, aber dass er nun Vaters Vorname benutzte, ließ mich kurz verstummen.
„Er ist nur enttäuscht“, sagte ich dann. „Er wird sich wieder beruhigen. Du hast es doch nicht genossen, diese Menschen umzubringen. Ich weiß, dass du das nicht wolltest. Und das ist doch schon der erste Schritt. Gemeinsam können wir das sicher schaffen. Du wirst nie wieder einen Menschen töten, da bin ich mir ganz sicher.“
„Ach ja?“, meinte Ani, dann drehte er sich um und verließ durch die Klappe das Zimmer, und ich kroch hinterher und lief ihm einige Meter quer übers Gelände nach.
„Ani, bitte überleg dir das noch mal. Bitte lass mich nicht allein!“ Ich machte einen Satz nach vorn, packte ihn am Arm und sah ihn eindringlich an. „Ich brauche dich.“
„Das hättest du dir überlegen können, bevor du mich verraten hast.“
„Ich hab das doch nicht getan, um dir zu schaden. Ich wollte dir helfen!“
„Schöne Hilfe, Mariella, wirklich!“
„Ani, es tut mir leid! Bitte! Es tut mir leid!“
Heiße Tränen stiegen mir in die Augen und kullerten über meine Wangen, die im Mondlicht noch heller aussahen. „Du bist mein Bruder, und ich liebe dich...“, flüsterte ich weinend und ließ dann müde seine Jacke los.
Er drehte sich nun ganz zu mir um. Einen Moment schien er mich nur zu beobachten, wie ich da zitternd und heulend mit ihm auf dem kleinen Hügel vor unserem Anwesen stand, dann jedoch nahm er mich langsam in den Arm. Ich kuschelte mich an seine Brust, er legte seine Wange auf meinen Kopf und strich mir sachte durch das Haar.
„Nein, mir tut es leid“, sagte er leise. „Ich habe dein Vertrauen zuerst gebrochen. Ich hätte der Versuchung nicht nachgeben dürfen. Ich hätte so leben müssen, wie unsere Eltern es uns beigebracht haben. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sage, aber ich kann Vater sogar verstehen. Ich glaube, wenn ich an seiner Stelle wäre, würde ich auch ausrasten.“
Ich lachte bitter und schluckte dann.
„Wie auch immer...“, fuhr er fort. „Sag Mutter bitte, dass es mir gut geht und dass sie sich keine Schuld zu geben braucht. Und Vater auch nicht. Niemandem. Und, Mariella?“
Schluchzend sah ich zu ihm auf. Er wischte mir mit dem Daumen eine Träne aus dem Gesicht, lächelte mich an und gab mir einen Kuss auf die Stirn. „Ich liebe dich auch, meine kleine, große Schwester.“
Dann ließ er mich langsam los, drehte sich um und verschwand für die Augen unserer Familie, die das Szenario im Hof der Villa beobachtet hatten. Ich jedoch sah, wie das flackernde Bild meines Bruders kleiner und kleiner wurde, bis er selbst für vampirische Augen am Horizont nicht auszumachen war. Eine Weile sah ich noch in die Ferne, dann ging ich zurück zu unserer Familie, wo meine Mutter ungläubig von einem zum anderen sah und noch immer flossen Tränen über ihr hübsches, jedoch müdes Gesicht.
„Was steht ihr hier nur rum und schaut zu?! Wollt ihr ihn denn gar nicht aufhalten?!“
„Vielleicht tut es ihm ganz gut mal ohne uns zu leben und seine eigenen Erfahrungen im Leben zu machen“, sagte Jasper sachlich.
„Und ihn weiter morden zu lassen?“, fügte Alice hinzu.
„Diese Erfahrung hat doch der eine oder andere von uns auch schon gemacht. Manchmal muss man erst diesen Weg gehen, um zu kennen, welcher Pfad einen wirklich glücklich macht. Früher oder später findet er sicher zu seiner Familie zurück“, meinte Edward.
„Was, wenn nicht, Edward?“, mutmaßte Bella.
„Dann ist es so“, sagte Vater trotzig.
„Jake“, fuhr Bella ihn an.
„Die Zukunft wird es schon zeigen“, ergriff Carlisle nun das Wort. „Fürs Erste lassen wir den Dingen ihren Lauf.“
Es machte mir Angst, dass sie ihn einfach gehen ließen, aber im Grunde waren mir ihre Worte gleich. Ich würde nicht zusehen, wie mein Bruder aus meinem Leben verschwand. Ich brauchte ihn, und ich war mir sicher, dass er mich auch brauchte. Doch wir waren noch nicht komplett. Und wenn ich es nicht allein schaffte, Anthony zurückzuholen, dann würde ich unser Trio eben wieder komplett machen...

Blood Moon - Biss in alle Ewigkeit (Fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt