1st chapter

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Nervös sitze ich auf einem der Stühle, die eigens für uns Abschließende hinter der Bühne aufgestellt wurden.

Mit mir befinden sich um die achzig andere Personen in etwa meinem Alter in dem Raum, wo wir darauf warten, aufgerufen zu werden. Einige sind schon nach dort draußen gegangen, jedes Mal unter schallendem Applaus unserer Eltern, Geschwister, Freunde und anderen Verwandten, die bei der Auswahl dabei sein wollen.

Je länger ich warte, desto unruhiger werde ich.

Ich versuche mich zu beruhigen: Ich kann noch gar nicht an der Reihe gewesen sein, denn mein Nachname, Maxwell, fängt schließlich mit M an, während gerade erst Adam Craig aufgerufen worden ist, ein Junge mit silbergrauem Haar, der ein echter Schleimbolzen sein kann und der dank seinem herausragenden Charme und den vielversprechenden Genen sofort in die Abteilung 'Politiker' gesteckt wurde.

Meine Eltern arbeiten ebenfalls bei der Regierung und fast befürchte ich, dass mir auch ein Job dort vorbestimmt ist, den ich laut den Goldenen Fünf, den wichtigsten Gesellschaftsregeln, die wir haben, gewissenhaft ausführen muss.

Ich will jedoch nicht in die Regierung, zu den eiskalten Menschen, die skrupellos um eine höhere Position kämpfen. Ein zartes Wesen wie ich würde dort eingehen.

Aber es steht nicht in meiner Macht, das anzuzweifeln, was für uns ausgewählt wird und wenn ich eine solche Arbeit bekommen werde, kann ich nichts anderes tun, als sie so gut es geht zu akzeptieren und das Beste daraus zu machen.

Wenn ich denn überhaupt eine Bestimmung habe.

Vielleicht bin ich auch dazu auserkoren, ein Rebell zu sein, jemand, der nicht in die Gesellschaft passt.

Jedes Jahr gibt es einige Personen, die nicht aufgerufen werden. Nach der Zeremonie werden sie abgeholt und in ihre neue Heimat, die Slums der Stadt, die Orte, an denen Rebellen unter sich sein können, gebracht. Sie werden gekennzeichnet durch ein Tattoo am Arm, das die normalen Menschen vor ihnen warnen soll. Sie sind gefährlich. Keiner geht freiwillig zu einem Rebell. Es sind die Kriminellen in unserer perfekten Welt, die Andersdenkenden, die Außenseiter.

Und mit dem Rebellendasein verlieren sie gleichzeitig die Fähigkeit dazu, einen Seelenparter zu finden. Jemanden, der aus der schwarzweißen Welt hervorsticht. Jemand, der bunt ist.

Jeder Normale findet in seinem Leben jemanden, den er in Farben sieht. Jemanden, der perfekt für einen ist.

Ich selbst habe diese Person für mich noch nicht entdeckt, doch ich habe Menschen gesehen, die sie gefunden haben. Es scheint, wie wenn sie sich gar nicht sattsehen können, an den etlichen Farben, die sie plötzlich sehen können. Es hört sich so wundervoll an, dass ich nicht glauben kann, wie man so ein Geschenk wegwerfen möchte.

Und deshalb fürchte ich mich davor, selbst ein Rebell zu werden. Weil ich einmal in meinem Leben diese Farben sehen möchte. Weil ich nicht für den Rest meines Lebens im dunklen Teil der Stadt hausen möchte, dazu verurteilt, nur unter meinesgleichen zu bleiben. Mit einem unübersehbaren Makel an meinem Arm daran erinnert, dass ich ein Fehler bin.

„Clarissa Lenchester", höre ich die Moderatorin sagen und schrecke auf.

Wir sind bei L angekommen, das heißt, dass mein Name nicht mehr fern sein kann.

„Ich gratuliere Ihnen zu einem Abschlussdurchschnitt von 3,9. Mit Freude verkünde ich, dass Ihre Bestimmung Kauffrau ist."

Kauffrau. Um es einfach zu übersetzen: Verkäuferin an einem Obst- oder Gemüsestand. Nicht der Beruf, den sie sich gewünscht hatte. Sie wollte Hebamme werden, aber dafür haben ihr Verhalten und ihre Schulergebnisse wohl nicht gestimmt. Kein Wunder, bei einem solchen Schnitt ...

„Mira Maxwell", kündigt die Frau, die uns durch den heutigen Abend begleitet, an und mit wackeligen Beinen erhebe ich mich.

Jetzt bereue ich es, Schuhe mit leichten Absätzen gewählt zu haben, denn wie zum Teufel soll ich auf den Dingern stehen, während meine Knie wie verrückt schlottern?!

Irgendwie schaffe ich es wohl doch, hinüber zur Tür zu staksen und wende mich noch einmal zu meinen ehemaligen Mitschülern und Mitschülerinnen um.

Ich weiß, dass ich manche von ihnen nach dem heutigen Tag nie wieder sehen werde. George Craster zum Beispiel, der junge Mann, der schon von klein auf immer frech war. Mittlerweile sieht er auch aus wie ein Rebell. Mit langen, ungekämmten Haaren und anfänglichem Bart, der zeigt, dass er sich mindestens drei Tage lang nicht mehr rasiert hat. Auch seine Kleidung ist schmuddelig und alt – er hat wohl nicht einmal selbst damit gerechnet, aufgerufen zu werden.

Wenigstens ist es keine Überraschung für ihn. Wie konnte er sein Leben nur so wegwerfen?

Schließlich gebe ich mir einen Ruck und schreite nach vorn auf die Bühne, wo mich die Moderatorin mit einem herzlichen Lächeln empfängt. Es ist meine Schulleiterin, wie ich erst jetzt bemerke, denn vorher habe ich nur ihre Stimme gehört. Ich kenne sie nicht gut genug, als dass ich sie daran hätte erkennen können.

„Mira Maxwell möchte ich als Jahrgangsbeste zu einem herausragenden Schnitt von 1,0 gratulieren", beginnt sie.

Ich werde sowas von in der Regierung landen.

Adam Craig, der Schleimer, der sich schon auf einen der für die angehenden in der Politik arbeitenden Leute reservierten Plätze gesetzt hat, grinst mich wissend an. Auch er ist sich sicher, dass ich in seine Abteilung gesteckt werde.

Aber ich will nicht! Mein Herz pulsiert schnell, es hämmert ängstlich gegen meine Brust, während mein Atem sich beschleunigt und meine Hände schwitzig werden, eine dumme Eigenschaft von mir, die ich von jeher gehasst habe.

„Sie ist dazu bestimmt, als Lehrerin zu arbeiten", verkündet unsere Schulleiterin jedoch und mir fällt ein Stein vom Herzen.

Ich werde Lehrerin werden. Ich werde jungen Kindern die Wichtigkeit unserer funktionierenden Gesellschaft erklären und ihnen den Start in das Leben vereinfachen.

Ich bin so erleichtert, dass sich ein breites Grinsen auf mein Gesicht legt, während die Menge applaudiert, die meisten eher aus Höflichkeit, doch meine Familie mit vollem Stolz und mit ganzer Überzeugung.

Ich habe sie nicht enttäuscht. Und ich wurde auch nicht enttäuscht.

Die Dinge, die sie nicht sehen || l.t. ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt