„Aber kommt nicht zu spät nach Hause!", rief die Frau mit der besorgten Falte auf der Stirn ihren beiden Kindern hinterher, als diese zu der Haustür stürmten und dabei einen solchen Lärm machten, dass man meinen könnte, das Haus stürze ein.
„Ja, wissen wir doch", entgegnete das kleine Mädchen mit den lockigen, dunkleren Haaren augenrollend.
Mit einem genervten Blick ließ sie sich einen Kuss auf die von ihrer Mutter zuvor sorgsam gemachten Frisur geben, doch ihr Bruder war wilder und hatte bereits die Tür aufgestoßen.
„Beeil dich doch mal, Georgie!", schrie er und hüpfte energiegeladen auf der Türschwelle auf und ab.
„Ich komme ja schon!", gab seine Schwester zurück, riss sich hastig von ihrer Mutter los und folgte dem Jungen mit dem dunklen Haar und den hellen Augen hinaus in den sonnigen Tag.
„Wieso bist du so lahm?", beschwerte er sich.
Es war der erste schöne Tag nach einer ganzen Woche Regen und er konnte es kaum erwarten, zum Spielen nach draußen zu gehen, statt immer nur in ihrer kleinen Wohnung herumzusitzen, wo es ihm nicht erlaubt war, zu rennen oder generell irgendetwas zu machen, was ihm Spaß machte.
„Wohin gehen wir, Lou?", fragte das kleine Mädchen und gesellte sich zu ihrem älteren Bruder, welcher schon in Richtung Norden gelaufen war.
„Ich habe auf dem Schulweg vor ein paar Tagen eine kleine Gasse entdeckt", erklärte er ihr und hob wichtigtuerisch seinen Zeigefinger, so, als ob seine Information von großer Bedeutung wäre. „Sie sieht so aus, als könnte man darin alles Mögliche erforschen!"
Das Mädchen hatte sich beeilt, um mit den längeren Beinen ihres Bruders mitzuhalten, doch nun, als sie dessen Worte hörte, blieb sie schlagartig stehen.
„Mummy sagt, wir sollen nicht an unbekannte Orte gehen!", meinte sie dann in quengelndem Tonfall. „Das dürfen wir also nicht, Louis!"
„Natürlich dürfen wir es nicht", sagte dieser zu ihr und sprach dabei so langsam, wie wenn sie ihn ansonsten nicht verstehen könnte, „aber das ist ja gerade das Spannende daran. Und Mum muss es ja nicht erfahren, wenn du es ihr nicht wieder wie beim letzten Mal verrätst."
Ihre Wangen verfärbten sich dunkel, als die Kleine daran erinnert wurde, dass sie ihrer Mutter vor einigen Wochen versehentlich berichtet hatte, wie ihr Bruder und sie auf einem Baum bis ganz nach oben geklettert waren. Er war mit seiner Hose an einem abgebrochenen Ast hängengeblieben, woraufhin sie gerissen war. Ihre Mutter hatte Louis daraufhin eine ganze Woche lang nicht nach draußen gehen lassen, sodass er – und insgeheim war sie sehr stolz darauf, dass sie es ganz allein gerechnet hatte – nur vier Tage nach draußen gehen konnte, bevor der Regen eingesetzt und sie zu einer Pause gezwungen hatte.
„Ich sage es Mummy nicht!", versprach sie also feierlich und Louis grinste.
Er hatte mit dieser Antwort bereits gerechnet.
„Okay, dann können wir ja losgehen!", rief er, griff nach ihrem Arm und zog sie mit sich. „Es ist gleich dort vorne!"
Und tatsächlich standen die beiden Geschwister nach wenigen Minuten vor einer kleinen Gasse, die nicht viel breiter als sie selbst war, wie sie dachten, auch wenn Louis später feststellen würde, dass auch ein Erwachsener sich hindurchzwängen konnte, wenn er nicht allzu dick war.
Nun jedoch gefiel ihnen der Gedanke, einen Ort zu haben, an den nur Kinder gelangen konnten und der ihr Geheimnis sein konnte.
„Hier können nur wir hin", wisperte Louis seiner kleinen Schwester zu, leise, um eine geheimnisvolle Stimmung aufzubauen und betrat ihr Versteck mit selbstsicherem Gesicht.
Georgia allerdings wandte ein, dass er damit nicht ganz richtig liege, denn schließlich sei der Ort auch für alle möglichen kleinen Tiere und natürlich andere Kinder zugänglich.
Louis wollte davon nichts hören.
„Wir haben ihn entdeckt", behauptete er, „deshalb gehört er uns. Das nennt man Finderlohn!"
Seine Schwester wusste nicht, was ein Finderlohn war, dachte sich allerdings, dass es etwas Großartiges sein musste, wenn es dafür sorgte, dass ihnen diese kleine, dunkle Gasse gehörte, die für Erwachsene nichts Besonderes war, für die beiden jedoch ein wundervoller neuer Ort, an dem sie spielen konnten.
„Geh schon weiter!", drängte sie ihren Bruder, quetschte sich dabei aber schon selbst an ihm vorbei und tappte vorsichtig in der Dunkelheit weiter.
„Hier ist eine Treppe!", triumphierte sie dann und freute sich, dass sie etwas gefunden hatte, das ihrem Bruder entgangen war.
„Wo?", hörte sie ihn und spürte gleich darauf seinen Ellbogen in ihrer Seite, als er sich nun an ihr vorbeidrängelte, um die neue Entdeckung zuerst begutachten zu können.
„Tatsächlich", stellte er dann fest und versuchte dabei möglichst schlau zu klingen, „es handelt sich bei dem neu entdeckten Objekt wahrscheinlich um eine Treppe. Aber wir wissen es nicht genau. Es könnte auch etwas anderes sein."
„Und wie finden wir heraus, was es ist?", hauchte Georgia beeindruckt.
„Wir probieren es aus", erklärte er ihr und schritt vorsichtig einige Stufen empor.
„Tatsächlich", wiederholte er dann. „Es ist ganz eindeutig eine Treppe."
„Und wohin führt sie?", wollte das Mädchen wissen und folgte ihrem Bruder.
„Das müssen wir herausfinden", meinte dieser und ging weiter.
Es war eine ganz schön lange Treppe, die sie da gefunden hatten. 223 Stufen hatte Georgia insgesamt gezählt, vorausgesetzt, sie hatte dabei keinen Fehler gemacht, was allerdings durchaus sein konnte, da Louis ununterbrochen geredet hatte.
Jener blieb nun so plötzlich stehen, dass sie gegen ihn prallte und sich an seiner Hand festhalten musste, um nicht umzufallen.
„Pass doch auf!", fuhr er sie an, zog sie dann jedoch mit sich.
Die Treppe hatte ihr Ende erreicht und sie befanden sich nun in einem eingezäunten Bereich, der an sich eigentlich nichts Besonderes war, weil er völlig kahl war.
Trotzdem stand dem Mädchen vor Staunen der Mund offen, denn es war die Aussicht hinter dem Geländer, die den Platz verzauberte. Man konnte von dort aus über die gesamte Stadt sehen – und vielleicht sogar noch weiter.
„Schau mal, Georgie", sagte Louis und streckte die Hand aus, um mit dem Finger auf ein Hochhaus zu deuten, „da in der Nähe ist die Schule."
„Und da ist der schiefe Turm von Pisa!", rief seine Schwester aus und deutete auf ein Bauwerk, dessen Dach modern entworfen war und schräg nach unten ging.
„Dummkopf", brummte Louis, „der schiefe Turm von Pisa ist in Italien. Das heißt, vorher musst du ein Meer sehen. Und das sieht auch gar nicht nach dem schiefen Turm von Pisa aus!"
„Tut es wohl!", verteidigte sie sich.
„Nein!", entgegnete er und beendete damit den kleinen Streit.
Georgia wusste, dass ihr Bruder schon in der Schule war und hielt ihn daher für unglaublich schlau, da man ihr immer sagte, man lerne dort alles.
„Können wir von hier aus bis ans Ende der Welt sehen?", fragte sie dann.
„Nein", erklärte er ihr, „denn die Erde ist eine Kugel. Es gibt gar kein Ende."
Enttäuscht blickte sie wieder in die Ferne.
Und auch, wenn ihr Bruder es abstritt und bestimmt klüger war als sie, Georgia kam es so vor, als könnte man von ihrem geheimen Platz aus die ganze Welt sehen.
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Die Dinge, die sie nicht sehen || l.t. ✓
FanfictionWATTYS WINNER 2020 ❝ I figured it out from black and white. ❞ ©2018, neliery und Moenqueen Mira lebt in einer Welt aus Schwarz und Weiß. Sie kennt keine Farben. Doch eine Person, irgendwo dort draußen, nur eine einzige Person, die darauf wartet, gef...