4th flashback

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„Schneller!", rief das kleine, hellhaarige Mädchen, das auf den Schultern ihres Vaters thronte, und zog an den Haaren des Älteren. „Los, Daddy, schneller!"

„Noch schneller?", fragte dieser lachend und sah zu seiner Tochter auf. Leise lachte er in sich hinein. „Ich laufe doch schon so schnell!"

„Noch schneller!", quengelte sie darauf und klopfte dem Älteren mit den kleinen Händen auf den Kopf, woraufhin dieser in sich hinein lächelte und sein Tempo ein wenig erhöhte.

Die beiden liefen im großen Garten ihres Hauses herum und ihr Vater hatte schon unzählige Runden mit ihr auf dem Rücken gedreht, als sie sagte: „Wir gehen jetzt ausreiten."

„Wie bitte?", wollte der Mann, der sie auf den Schultern trug, wissen, obwohl er schon wusste, was seine Tochter von ihm wollte.

„Nach draußen, auf die Straße!", erklärte sie ihm und verdrehte die Augen, weil er nicht sofort begriffen hatte, wovon sie redete.

„Wir müssen eine wichtige Mission im Auftrag der Regierung erfüllen, deshalb müssen wir ein Eis essen gehen!", fügte sie dann wichtigtuerisch hinzu.

„Ich hab aber doch gar kein Geld dabei", murmelte ihr Vater. „Mira, Schätzchen, wollen wir das nicht später machen?"

„Nein, jetzt!", hielt sie an ihrem Entschluss fest. „Ich habe genau gesehen, dass du dein Portemonnaie eingesteckt hast, Daddy. Und wir dürfen die Regierung nicht warten lassen, oder?"

„Da hast du allerdings recht", murmelte er, „du bist wie immer meine kluge, pflichtbewusste Tochter, was? Nun gut, wenn die Regierung es so will, müssen wir wohl unbedingt ein Eis essen gehen."

„Jaaa!", freute sich die Kleine, riss ihre Arme jubelnd in die Höhe und hätte beinahe ihr Gleichgewicht verloren, wenn ihr Vater nicht hastig nach ihren Beinen gegriffen und sie festgehalten hätte.

„Vorsicht, Agentin Mira", mahnte er, „Sie müssen Ihren Auftrag mit sehr viel Sorgfalt bewältigen. Dabei ist es wichtig, ruhig zu bleiben."

Mira bemühte sich, ihre Miene ernst wirken zu lassen und umklammerte den Hals ihres Vaters mit beiden Armen, um sich besser festhalten zu können.

„Los, Agent", flüsterte sie ihm ins Ohr, „unsere Mission hat oberste Priorität und darf nicht warten."

Schon wieder lachte ihr Vater, machte sich aber wirklich auf den Weg, mit seiner kleinen Tochter auf den Schultern zum Gartentor hinauszugehen und die Straße zu überqueren. Er konnte seiner kleinen Prinzessin einfach keinen Wunsch abschlagen und hätte wohl alles getan, worum sie ihn gebeten hätte.

Irgendwann, da war er sich sicher, würde sie eine wunderschöne, junge Frau sein und eine glänzende Karriere in dem Job hinlegen, der für sie ausgesucht werden würde.

Sie war sein einziges Kind und sein ganzer Stolz dazu.

Keines der Kinder seiner vielen Kollegen war so intelligent, freundlich und liebenswürdig wie seine kleine, über alles geliebte Mira.

„Wie viele Kugeln Eis werden wir denn kaufen müssen, um die Regierung zufriedenzustellen, Agent?", fragte er sie und schielte zu ihr empor.

Die Kleine überlegte kurz.

„Drei", wisperte sie dann und lachte frech, denn sonst bekam sie nie drei Kugeln auf einmal. „Für jeden von uns drei. Und für Mummy müssen wir auch welches mitbringen."

„Das ist aber lieb von dir, dass du an Mummy denkst", lobte sie ihr Vater.

Für einen Moment zögerte er und überlegte, ob er die drei Kugeln durchgehen lassen sollte, aber dann entschloss er sich dazu, heute mal eine Ausnahme zu machen und seiner Tochter das viele Eis zu erlauben. Es war ohnehin sehr warm und etwas Kühles würde ihnen sicher guttun.

Plötzlich hörten sie Geräusche und Mira sah auf, um den Ursprung der lauten Rufe zu finden.

Ein Mann war zu erkennen, der atemlos durch die Straßen rannte.

„Hilfe!", schrie er verzweifelt, als er Mira und ihren Vater sah. „Helfen Sie mir!"

Für einen Moment stockte ihr Vater.

Dann schien er allerdings etwas zu erkennen, kniff die Augen verärgert zusammen und ignorierte die ängstlichen Rufe.

„Bitte, ich brauche Hilfe!", jammerte der Mann weiter.

„Daddy?", murmelte Mira ihrem Vater zu, „Wollen wir ihm nicht helfen? Er sieht sehr unglücklich aus."

Für einen weiteren Moment stockte ihr Vater, dann wurde er sehr ernst, weil er wusste, dass er seiner Tochter nun etwas erzählen musste.

Bevor er jedoch zu einer Erklärung ansetzen konnte, kamen einige weitere Personen in ihr Blickfeld. Sie rannten hinter dem um Hilfe schreienden Mann her, holten ihn schließlich ein, streckten ihn zu Boden und legten ihm Handschellen an.

„Daddy, wir müssen ihm helfen!", sagte Mira währenddessen verzweifelt und zerrte an den Haaren ihres Vaters. „Sie bringen ihn um, Daddy, sie bringen ihn um!"

Derweil hatte man den Mann wieder auf die Beine gezerrt und schleppte ihn nun zu einem schwarzen Wagen.

„Mira", meinte ihr Vater und griff nach ihren Händen, um sie davon abzuhalten, weiter an seinen Haaren zu ziehen. „Sei still, Mira!"

Seine Tochter weinte jetzt. Sie strampelte, wollte von ihrem Vater loskommen und zu dem Mann in Handschellen gehen, der so unglaublich hilflos und verzweifelt aussah.

„Er wird nicht sterben, Mira. Sie bringen ihn nicht um."

Sie hörte ihm nicht zu und versuchte trotzdem weiter, zu dem Mann zu kommen.

Seufzend hob der Ältere sie von den Schultern, stellte sie auf dem Boden ab, hielt aber ihren Arm fest, um sie vom Wegrennen abzuhalten.

„Pass auf, Prinzessin", sagte er leise und wischte ihr mit einer Hand eine heruntergelaufene Träne von der Wange. Sie wandte ihr Gesicht ab. „Es gibt Menschen, die sehr gefährlich für uns sein können." Dabei schielte er zu dem soeben festgenommenen Mann. „Du hast doch bestimmt schon einmal von Rebellen gehört, oder?"

Sie nickte.

„Und dieser Mann ist ein Rebell. Er würde unsere Regeln brechen, die dafür sorgen, dass wir alle in Frieden leben können, wenn man ihn lassen würde. Er ist gefährlich für uns alle. Die Regierung hat ihn nur festgenommen, weil er böse ist."

„Aber er sah gar nicht böse aus", schniefte Mira.

Ihr Vater seufzte. „Manche Menschen sehen anders aus, als sie sind. Wir müssen der Regierung einfach vertrauen, denn sie weiß, was das Beste für uns ist." Tröstend legte er ihr einen Arm um die Schultern. „Komm, mein Schatz. Wir gehen ein Eis essen."

Die Dinge, die sie nicht sehen || l.t. ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt