6th chapter

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Nicht unbedingt ausgeschlafen liege ich in meinem Bett und starre an die Decke.

Der gestrige Tag war irgendwie seltsam – zwar gut, denn ich habe schließlich meinen Seelenpartner gefunden, aber auch anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Und ich habe noch dazu keine Ahnung, wie ich Louis wiederfinden soll. Auf meine Frage, ob er mir seine Telefonnummer geben könne, antwortete er später nur mit 'Ich lebe altmodisch'.

Wer zum Teufel hat heutzutage denn kein Handy?!

Aber auch alle anderen Versuche, ein erneutes Treffen auszumachen, sind irgendwie gescheitert. So, als wenn er mich einfach nicht mehr sehen wollte.

Habe ich gestern etwas falsch gemacht? Bin ich ihm irgendwie zu aufdringlich?

Seufzend stehe ich auf und mache mich fertig, bis mir auffällt, dass ich frei habe. Man muss für eine Woche nicht zur Arbeit erscheinen, wenn man seinen Seelenpartner getroffen hat.

Da ich jedoch schon angezogen bin, möchte ich auch nach draußen gehen.

Vielleicht kann ich noch einmal zu Madison's gehen – oder auch nicht, denn ich bekomme ein flaues Gefühl im Magen, wenn ich an den Blick des Kellners denke, nachdem ich fast vergessen hatte, zu zahlen.

Ich werde mich wohl nie wieder dort blicken lassen können!

Hastig tausche ich die hohen Schuhe gegen ein Paar alltagstauglichere Turnschuhe aus und verlasse danach das Haus.

Wie von selbst tragen mich meine Beine den gewohnten Weg zur Schule, sodass ich erneut in der belebten Einkaufsstraße lande, die ich so gern habe. Doch heute können mich all die Eindrücke nicht mehr ganz so sehr faszinieren, da ich weiß, wie die Welt in Farbe aussieht. Besser gesagt: ein kleiner Teil dieser Welt. Ein kleiner Teil, der sich bedauerlicherweise heute noch nicht hat blicken lassen.

Vielleicht sollte ich doch zu Madison's gehen, denn das ist unser einziger Anhaltspunkt zueinander.

Weder weiß er meine Adresse, noch ich die seine. Warum bin ich gestern nicht auf die Idee gekommen, sie ihm mitzuteilen?

Trotzdem entscheide ich mich, erst einmal ein Brötchen beim Bäcker als Frühstück zu kaufen.

Ich wähle eins, das mit Schinken belegt ist und frage mich gleichzeitig, was für eine Farbe es wohl hätte, würde ich es bunt sehen. Welche Farbe hätte der Schinken?

Es muss eine helle Farbe sein, das ist mir klar, denn das Grau, das ich erkenne, wenn ich darauf blicke, ist ebenfalls hell. Trotzdem gibt es noch dutzende Möglichkeiten, was es sein könnte.

Die herausstechende Farbe seiner Augen? Die zarte seiner Haut oder die sanfte seiner Lippen?

Mir fällt auf, wie viel ich nicht über die Welt weiß, in der ich lebe. Ganz alltägliche Dinge bilden plötzlich ein Rätsel, denn ich kenne ihre Farbe nicht. Sogar ein Schinkenbrötchen ist ein Rätsel für mich!

Aber all diese Gedanken werden unterbrochen, da meine Augen wie ein Magnet von den Farben angezogen werden, die sie plötzlich wieder sehen können. Ich habe ihn gefunden!

Ohne weiter zu überlegen, sprinte ich los und rufe dabei laut seinen Namen.

Er scheint mich nicht zu hören, da er mit jemandem telefoniert, also tippe ich ihn schließlich an der Schulter an.

Moment mal – er telefoniert mit jemandem?

„Ich dachte, du hast kein Handy!", sage ich vorwurfsvoll und mustere das etwas aus der Mode gekommene Gerät, das jedoch noch äußerst funktionstüchtig ist, wie ich mit eigenen Augen sehen kann.

Er schielt zu mir und spricht dann wieder in sein Telefon: „Ja, ich bin schon auf dem Weg ... Was? Natürlich bring' ich es gleich zu dir, wieso sollte ich mir sonst die Mühe machen?" Nach einer Weile beendet er sein Gespräch mit den abschließenden Worten: „Okay, halt dich tapfer. Ich bin, so schnell es geht, bei dir."

Dann wendet er sich mir zu. „Hör mal, Mia, ich hab' gerade-"

„Mira", verbessere ich ihn zähneknirschend.

So schwer zu merken ist mein Name nun wirklich nicht!

„Jedenfalls ist es gerade ganz schlecht", würgt er mich ab. „Ich muss was besorgen."

„Ich komme mit", sage ich achselzuckend. „Denn erstens können wir danach vielleicht ja noch was zusammen machen – dafür ist die arbeitsfreie Woche schließlich da – und zweitens habe ich mit dir noch ein Hühnchen zu rupfen, Monsieur!"

Er zieht die rechte Augenbraue im Laufen empor. „Das wäre?"

Sauer blicke ich in seine fantastischen Augen. Werde ich mich jemals an den Anblick gewöhnen können?

„Du hast gesagt, dass du kein Handy hast!", werfe ich ihm vor.

„Daran kann ich mich nicht erinnern", gibt er gleichgültig zurück. „Ich hatte lediglich erwähnt, dass ich altmodisch lebe."

„Aber ich hab' dich nach deiner Nummer gefragt!", rufe ich empört.

„Ja", erwidert er, „aber ich habe sie dir nicht gegeben. Und es ist gerade wirklich schlecht, du hast mich schließlich gestern schon von allem anderen abgehalten."

Er bleibt ruckartig stehen und geht dann in ein Geschäft. Eine Apotheke.

Mit einem Mal fühle ich mich schlecht. Ich habe ihn wirklich von seinem restlichen Leben abgehalten.

„Bist du krank?", will ich besorgt wissen, der Ärger ist verflogen.

Er antwortet nicht und ich muss selbst spekulieren.

Bestimmt geht es um seinen Arm. Auch wenn er mir nicht sagen will, was los ist, ich bin mir sicher, dass sich darunter eine Verletzung verbergen muss!

Umso verdutzter bin ich, als er nach einem Mittel gegen Erkältung greift.

„Hustensaft?", frage ich entgeistert.

„Für eine Freundin", erklärt er mir knapp und geht zur Kasse.

Er sucht in seiner Tasche herum und kramt dann einige Münzen und einen zerknitterten Schein hervor.

„Reicht das?", murmelt er hoffnungsvoll und schaut den Verkäufer mit einem Hundeblick an.

„Zwei fünfzig zurück", meint dieser als Antwort, drückt ihm das Restgeld in die Hand und gibt ihm noch dazu eine Quittung.

Auf den Hacken dreht er sich zu mir um.

„Mira", meint er erzwungen ruhig. „Ich bringe jetzt das Medikament zu meiner Freundin und du gehst am besten nach Hause. Okay?"

Ich schüttele den Kopf.

„Nein", erwidere ich bestimmt. „Ich komme mit!"

„Oh nein, das wirst du nicht!", pfeffert er bissig zurück.

Was zum Teufel ist los mit ihm?

Die Dinge, die sie nicht sehen || l.t. ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt