Unsicher verlasse ich das Gebäude, in dem meine Eltern und ich wohnen. Noch einmal überprüfe ich die Uhrzeit und werde beruhigt – bis zu Beginn meines ersten Tages als angehende Lehrerin habe ich noch genug Zeit, um gemütlich dorthin zu laufen.
Einmal tief einatmend mache ich einige Schritte, auf den ungewohnt hohen Schuhen bin ich immer noch etwas wacklig. Allerdings sind die Zeiten in Turnschuhen nun vorbei, ich bin schließlich erwachsen und dabei, einen Beruf zu erlernen, daher sollte ich mich auch dementsprechend verhalten und kleiden.
Meine hellen Haare sind in einem straffen Zopf nach hinten gebunden, während ich schluckend auf die Stufen hinabsehe, die ich nehmen muss, um zur Straße zu gelangen. Mit hohen Schuhen Treppen laufen ist garantiert nicht meine Stärke.
Trotzdem gebe ich mir einen Ruck und stakse mehr schlecht als recht hinunter.
Dort angekommen, atme ich erleichtert auf und setze meinen Weg fort. Ich kenne die Strecke von früher, es handelt sich hierbei schließlich um meinen Schulweg. Dieser führt auch durch eine gut besuchte Straße, sogar jetzt, wo es noch fast dunkel ist und die Geschäfte erst langsam zum Leben erwachen.
Ich mag diese Zeit besonders gerne. Die Zeit, in der die ersten Lichter in den Schaufenstern aufflackern und eine Verkäuferin eben noch zu einer der Modepuppen huscht, um ein Kleidungsstück zu richten. Die Zeit, in der der ältere Herr vom Eisladen sein Schild nach draußen stellt und beginnt, die Plastikstühle an die Tische zu stellen. Die Zeit, in der das Obst- und Gemüsegeschäft an der Kreuzung in Richtung Zentrum die Markise ausfährt und die Auslage nach draußen stellt.
Ich lasse mich im Fluss der Menschen treiben und gönne mir einen winzigen Augenblick der Ruhe, in dem ich den Moment ganz einfach genieße, die Augen schließe und die Geräusche und Gerüche auf mich wirken lasse.
Die Luft ist noch kühl von der Nacht und fühlt sich frisch und klar an. Es riecht nach dem Parfüm einer vorbeigehenden Frau und dem frischen Gemüse des Eckladens.
Ich höre Stimmen. Raue, tiefe, melodische, helle und weiche Stimmen. Sie vermischen sich zu einem einzigen Summen, wie eine Melodie, die an jedem Tag neu komponiert wird.
Zu solchen Zeitpunkten bin ich einfach nur glücklich. Ich fühle mich losgelöst vom ganzen hektischen Rest dieser Welt, für kurze Zeit bin ich frei von allen Pflichten.
Aber jeder noch so schöne Moment muss ein Ende haben.
Ich weiß, dass es gekommen ist, als sich der Gedanke an meinen neuen Job wieder vor alle anderen schiebt.
Seufzend kneife ich die Augen noch ein bisschen fester zusammen, um die ruhige Vertrautheit, in die ich kurzzeitig geflohen war, zum Bleiben zu zwingen, doch je mehr ich es versuche, desto weniger kann ich sie greifen.
So ist es wohl mit Gefühlen. Man kann sie weder herbeirufen noch festhalten. Sie flackern in manchen Augenblicken ganz einfach auf und verschwinden, bevor man sie greifen kann.
Seufzend ergebe ich mich der besorgten Stimme in meinem Hirn, die mir sagt, ich würde zu spät kommen – völlig unbegründet, ich bin viel zu früh losgelaufen – und öffne meine Lider.
Und da sehe ich es.
Es kommt so überraschend und ist so grell, dass mir ein kurzes Keuchen entfährt, ich die Augen hektisch wieder schließe, mehrmals blinzele, mich in den Arm kneife, um zu überprüfen, ob ich nicht vielleicht träume und schließlich, weil mein Kopf einfach nicht begreifen kann, was er gerade gesehen hat und dieses Erlebnis wiederholen möchte, die Augen so weit es geht aufreiße, in der Angst, er würde verschwunden sein.
Doch da läuft er, auf der anderen Straßenseite, mit den Händen tief in den Taschen vergraben, den Kopf gesenkt und die Augen stur zu Boden gerichtet. Er ist das Faszinierendste, was ich in meinen 18 Jahren, die ich nun schon auf dieser Welt lebe, je erblickt habe. Denn er strahlt förmlich.
Es gibt nichts, was diesen Anblick in Worte fassen könnte. Es gibt nicht einmal Worte für das, was ich sehe.
Aus dem schwarz, grau und weiß meiner bisherigen Welt hebt sich nun ein Fleck ab. Ein junger Mann mit dunklen Haaren und einer Anziehungskraft auf mich, die mir den Atem raubt. Ich kann den Blick nicht von ihm abwenden. Er ist zu neu, zu faszinierend, zu ... wunderschön. Das Wort ist nicht passend für das Chaos, das sein Anblick in mir auslöst, jedoch hat unsere Sprache keinen passenderen Begriff als diesen. Wunderschön.
Denn zum ersten Mal in meinem ganzen Leben sehe ich bunt.
Ich habe meine Sprachlosigkeit noch nicht ganz überwunden, da laufe ich schon los, mit so großen Schritten, wie ich mir in den unbequemen Schuhen zutraue.
Diagonal über die Straße. Ohne Rücksicht darauf, dass ein Auto mich jederzeit erfassen und überfahren könnte. Ich werde angezogen wie eine Motte vom Licht. Wie ein Magnet.
„Hey, du!", rufe ich plötzlich, meine Stimme klingt kratzig und zittrig.
Er kann mich auf keinen Fall gehört haben.
Wenn er doch nur den Blick vom Asphalt heben würde!
„Du da vorne!", rufe ich erneut, dieses Mal lauter und beginne, zu rennen, trotz aller Furcht, mit den Dingern an meinen Füßen, die sich Schuhe nennen, zu stolpern. „Hallo! Bleib stehen!"
Ein Dutzend Leute drehen sich mittlerweile nach mir um, aber ich interessiere mich nicht für sie. Das Einzige, was meinen Blick gefesselt hält, sind die Farben.
„Hallo!", wiederhole ich immer wieder und letztendlich dreht sich der junge Mann zu mir um.
Erleichtert verlangsame ich mich. Jetzt muss er mich bemerkt haben!
Ich bleibe schließlich stehen, ignoriere das Protestieren der Leute hinter mir, die weiter gehen wollen, und ein riesiges Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht.
Mein Seelenverwandter. Meine Liebe für's Leben. Meine zweite Hälfte. Mein Gegenstück. Meine Ergänzung.
Unsere Blicke streifen sich für den Bruchteil einer Sekunde, ich erkenne die Farbe seiner Augen, die mich unwillkürlich nach Luft schnappen lässt und lächle sogar noch breiter.
Er sieht mich an, mustert mich kurz und dann ... dann dreht sich der junge Mann um und läuft ungerührt weiter.
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Die Dinge, die sie nicht sehen || l.t. ✓
FanfictionWATTYS WINNER 2020 ❝ I figured it out from black and white. ❞ ©2018, neliery und Moenqueen Mira lebt in einer Welt aus Schwarz und Weiß. Sie kennt keine Farben. Doch eine Person, irgendwo dort draußen, nur eine einzige Person, die darauf wartet, gef...