11th chapter

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Ich sitze in meinem Zimmer und starre auf die Wand.

Langsam drehe ich mich auf meinem Stuhl im Kreis.

Ich denke nach.

Wie sich Louis gestern verhalten hat, beschäftigt mich. Die Aussage, dass er keine Kinder haben will, aber vor allem, wie er meinem Vater und dessen Kollegen gegenübergetreten ist und die Rebellen beinahe verteidigt hat.

Es könnte nur Zufall sein, beruhige ich mich. Er könnte einfach ein etwas seltsames Weltbild haben, er könnte zu naiv sein, um die Bedrohung der Rebellen wirklich zu begreifen und noch so viel mehr würde mir eine Erklärung für sein Verhalten liefern. Und vielleicht will er wirklich keine Kinder haben, weil er ihr Geschrei nicht mag, sich nicht so viel Arbeit machen will oder Angst hat, sie würden zu Rebellen heranwachsen.

Doch im Zusammenhang mit einigen Vorfällen in den letzten Tagen ist sein Verhalten fast schon auffällig. Es sind nur Kleinigkeiten, die mir einfallen, Dinge, die nichts bedeuten müssen und rein zufällig so passiert sind, aber zusammen ergeben sie ein Muster und deuten auf etwas anderes hin.

Da wäre also zuerst die Tatsache, dass er sich bei unserem ersten Treffen und oftmals auch später in der Stadt nicht auszukennen schien. Schlechter Orientierungssinn, vielleicht, aber vielleicht auch nicht.

Zum anderen die Tatsache, dass er sich nichts bestellen wollte, als wir nach der Begegnung im Madison's saßen. Vielleicht hatte er keinen Hunger, vielleicht aber gab es auch einen anderen Grund dafür.

Das im Zusammenhang damit, dass er nicht zahlen wollte. Er könnte es ganz einfach vergessen haben. Vielleicht ist er ja etwas zerstreut. Sonst jedoch kommt er mir ziemlich standhaft und realistisch vor.

Vielleicht hatte er also einfach kein Geld.

Ich fühle mich mit einem Mal wie ein Detektiv, der den Spuren eines Täters hinterherjagt. Und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr Punkte fallen mir ein, die ich auf die Liste der verdächtigen Dinge setzen kann.

Ich nehme mir also einen Klebezettel und schreibe in meiner geschwungenen, sauberen Schrift 'Orientierung' auf. Ich nehme meine Notiz und klebe sie an das Fenster neben meinem Bett. 'Geldmangel?' hänge ich direkt daneben.

Nun kneife ich die Augen zusammen und denke weiter nach.

Die Kleidung, die er trägt. Es ist kein großer Beweis, das ist mir klar, aber doch ein kleines Puzzleteil in dem Rätsel, das ich dabei bin, zu lösen.

Er trägt keine außergewöhnlich schlimme oder schmutzige Kleidung, allerdings sticht er trotzdem damit heraus, wenn ich ihn mit allen anderen Leuten vergleiche, die ich kenne. Es sieht ganz einfach billiger aus, vielleicht auch ein wenig unsicher, so als wüsste er nicht, ob man Sachen wie seine wirklich so tragen würde oder ob er völlig aus der Mode ist. Vielleicht interessiert er sich nicht für die neusten Trends. Vielleicht hat er aber auch gar keine andere Wahl.

Ich nehme mir also erneut meinen schwarzen Edding und schreibe ordentlich 'Kleidung' darauf, bevor ich das Post-It neben die beiden anderen hänge.

Seine Freundin ist der nächste Punkt. Er hat sich partout geweigert, sie mir vorzustellen oder mir zu erlauben, sie mit ihm zu besuchen. Vielleicht schämt er sich für mich, doch andererseits könnte es auch sein, dass er einfach nicht will, dass ich sehe, wo seine Freundin wohnt.

Und beim Stichwort 'wohnen' fällt mir auch ein, dass er sein Haus oder den Ort, an dem er lebt, nie wirklich erwähnt hat. Er weicht Fragen über sich selbst generell immer aus, auch, als mein Vater ihn nach seinem Beruf gefragt hat.

Bevor ich einige meiner Punkte vergesse, füge ich noch 'Beruf?', 'Wohnort?' und 'Freundin' zu meinem Schaubild am Fenster hinzu.

Und dann also wieder der Punkt, dass er sich den Rebellen gegenüber nicht sehr negativ geäußert hat. Naivität oder Selbstschutz?

Ich erschrecke vor mir selber, da ich gedanklich gerade das ausgesprochen habe, was mir die ganze Zeit als Verdacht im Kopf herumschwirrt.

Ist Louis ein Rebell?

Ich hefte auch diesen Punkt unter dem Stichwort 'Rebellenverteidigung' an das Fenster und komme nun zu den zwei offensichtlichsten Punkten, die ich vehement versucht habe zu ignorieren.

Erst einmal die Armbinde. Sie ist genau über der Stelle, wo für gewöhnlich das Mal ist, das Rebellen auszeichnet. Natürlich kann es auch eine dumme Verletzung sein, die er sich zugezogen hat, aber seine ausweichende Art, wenn man ihn darauf anspricht, zusammen mit den ganzen anderen Hinweisen, die ich schon habe, lässt mich etwas anderes vermuten. Es lässt mich denken, dass es tatsächlich sein Mal ist, das er dort unter dem Verband versteckt.

Mit plötzlich zittriger Hand schreibe ich auch 'Armbinde' auf und klebe es an das Fenster.

Ich fürchte mich ein wenig vor meinem letzten Punkt, allein schon aus dem Grund, da ich es ganz einfach nicht wahrhaben will.

Er war vollkommen überrascht gewesen, als ich ihn aufgehalten hatte. Während mir das Bunte sofort aufgefallen ist, ist er einfach weitergegangen, ohne mich zu bemerken. Doch er muss mich schon vorher gesehen haben und niemand würde wohl die Farben übersehen, die einem ganz plötzlich ins Auge springen. Er konnte es nicht übersehen haben! Es sei denn ...

Sobald man bei der Auswahl nicht aufgerufen wird und somit offiziell ein Rebell ist, bekommt man eine Spritze. Diese Spritze löst etwas im Gehirn aus, das verhindert, dass man jemals Farben sehen kann. Man wird also niemals seinen Seelenpartner finden, was die Fortpflanzung der Rebellen erschwert.

Kann es also sein, dass ich Louis ganz einfach nicht aufgefallen bin? Dass ich nur eine unter Tausenden war, die an diesem Morgen die Straße entlanggelaufen ist?

Ich atme tief durch und beschrifte den letzten Zettel mit 'Farbsehen?'. Dann klebe ich ihn an das Fenster, trete einige Schritte zurück, wobei ich fast über den Stuhl stolpere und sehe mir mein Werk an.

Neun Zettel hängen an meinem Fenster. Neun Zettel, die zusammen ein Muster ergeben, dass sich nur schwer als einfacher Zufall abstempeln lässt.

Ich schlage die Hände vor den Mund und sehe mir die gesammelten Beweise an.

„Oh verdammt", flüstere ich dann atemlos, „du bist ein Rebell, Louis!"

Die Dinge, die sie nicht sehen || l.t. ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt