„Ich habe viel Einfluss", fährt mein Vater ungerührt von meinen Tränen fort, „vielleicht sogar genug, um dich vor der Spritze zu bewahren."
Er sieht mir tief in die Augen, so wie es sich laut unserer Regeln gehört, doch es macht es mir nur noch schwerer, hier zu sitzen. Zu diesem Zeitpunkt denke ich nicht an Louis oder die Rebellen, ich denke auch nicht an die vergangenen Tage, unseren Plan und all die Dinge, die ich nie sehen konnte und die in dieser Welt so unglaublich falsch sind.
Nein, ich bin egoistisch. Ich denke nur an mich und daran, wie einfach ich es mir machen könnte. Würde ich meinen Vater um Verzeihung bitten, könnte ich vermutlich in mein altes Leben zurückkehren. Ich könnte wieder die alte Mira sein, das süße, naive Mädchen, das einmal Lehrerin werden wird. Aber das würde bedeuten, irgendwann vor kleinen, schwarzweißen Gestalten zu stehen und ihnen all das zu lehren, was einfach nur falsch ist. Und vor allem hieße es, Louis für immer aufzugeben und das reißt mich in die Gegenwart zurück.
„Du bist meine einzige Tochter, Mira. Ich bin mir sicher, dass du mich nicht enttäuschen wirst", fährt mein Vater fort. „Du erhältst ein Privileg, das viele nicht bekommen würden: Eine zweite Chance." Er lehnt sich über den Schreibtisch zu mir nach vorne, umfasst mein Kinn und hebt es an, sodass ich ihm zwangsläufig in die Augen blicken muss. „Aber du darfst dir nie, nie wieder einen solchen Fehltritt erlauben, verstehst du? Wenn du nur auf die geringste Art und Weise erneut auffällig wirst, ist das das Aus für dich."
Er sieht mir an, dass ich schwanke, das weiß ich. Er sieht es und will es nicht wahrhaben, weil ich trotz allem noch sein eigen Fleisch und Blut bin, seine kleine Prinzessin. Das ist der Grund, warum ich so lange die Augen vor der Wahrheit verschlossen habe: Meine Eltern sind keine Monster. Oh Himmel, wie viel einfacher es sein würde, wenn sie es wären. Aber nein, auch sie sind Menschen, auch sie haben Gefühle und auch sie lieben.
„Dad, ich ...", hauche ich. Sein Blick bohrt sich in meinen und sorgt dafür, dass ich eine Gänsehaut bekomme.
„Deine Mutter weint, seit du weg bist, nur noch", erzählt er mir. Warum fängt er damit an? Was hat das mit allem zu tun? „Sie hat nichts von alldem geglaubt, was man über dich erzählt hat. Sie hat nicht geglaubt, dass du dich freiwillig mit einem Rebellen eingelassen hat. In aller Öffentlichkeit hat sie dich verteidigt, Mira, und dabei ihre eigene Sicherheit riskiert. Sie liebt dich von Herzen, Mira, genau wie ich." Er stockt kurz. „Willst du das alles wegwerfen, für einen Jungen, der keine Zukunft hat? Für eine Liebe, die keine Zukunft hat, während jemand anderes, der angebracht für dich wäre, allein dort draußen ewig auf dich warten wird?"
Will ich das? Ich weiß es selbst nicht mehr, wenn ich in seine Augen sehe. Er hat dunkle Ringe darunter und mir wird bewusst, dass auch an ihm nichts davon einfach so vorbeigezogen ist.
„Was steht über der Familie, Mira?", fragt er mich und erinnert mich dabei an meine Lehrerin.
„Nichts", wispere ich, einem inneren Drang folgend, als sei ich hypnotisiert. „Nichts steht über der Familie." Stumme Tränen kullern mir die Wangen hinunter.
Es ist eine der seltenen Augenblicke, in denen mein Vater die Mundwinkel hebt und damit ein ehrliches Lächeln andeutet.
„So ist es brav, meine Kleine", murmelt er. „Kann ich mir sicher sein, dass du von jetzt an alles tust, was wir dir sagen? Wir sind deine Eltern, Mira, wir wissen, was das Beste für dich ist."
„Ja." Es kommt fast tonlos über meine Lippen. „Ihr könnt euch sicher sein, Dad. Ich werde euch nicht mehr enttäuschen."
Seine Hand, die bisher mein Kinn umfasst hat, wandert zu meiner Wange und wischt mir die Tränen weg. „Ich werde mich für dich einsetzen. Wenn du von nun an brav sein wirst, wirst du noch eine Chance bekommen."
Als er seine Hand zurückzieht, sackt mein Kopf schlaff nach unten, als habe man mir mit einem Mal alle Energie genommen. Ich fühle mich leer, ausgelaugt, als habe man ein Teil von mir geraubt.
„Nun gut, dann wer-", er kann nicht weiter reden, weil die Tür mit einem Knall aufgestoßen wird.
„Mira!", ruft er. Ich würde seine Stimme immer erkennen, selbst in einem Moment wie diesem, wo ich sonst nichts klar sehen kann.
„Louis!", entfährt es mir und ohne darüber nachzudenken, springe ich auf.
Mein Vater hatte schon immer schnelle Reaktionen. Bevor irgendjemand sonst etwas dagegen tun könnte, hat er meinen Arm umgriffen und drückt ihn mit aller Kraft zurück auf den Schreibtisch. Vor Schmerz keuche ich auf und beuge mich dem Druck gezwungenermaßen.
„Du wirst niemals etwas daran ändern, nicht wahr?", meint er abfällig. „Wenn er dich ruft, wirst du immer wie ein Hündchen zu ihm kommen!"
„Du bist derjenige, der wie ein Hund auf Befehle gehorcht", fauche ich ihn an. „Siehst du nicht, was die Regierung mit uns allen macht? Du stellst das System über alles andere! Du stellst es über mich, deine eigene Tochter. Verstehst du nicht? Du bist mein Vater, du solltest zu mir halten. Nichts geht über die Familie!"
Ich beginne zu schluchzen.
„Dad, bitte", wimmere ich, „denk darüber nach! Lass dich nicht zu ihrem Werkzeug machen!"
Schon seit ich denken kann, bilden sich kleine Falten auf seiner Stirn, wenn er nachdenkt. Das gibt mir Hoffnung, ich halte den Atem an.
„Mira", sagt er schließlich, „Du hast dich für sie entschieden und das kann ich nicht tolerieren. Du bist nicht meine Tochter. Nicht mehr."
Und mit diesen Worten zieht er eine Spritze aus der Schublade seines Schreibtisches hervor und rammt sie mir in den Arm, den er noch immer festhält. „Es tut mir leid."
„Nein", bringe ich noch heraus, doch schon wird mir schwindelig.
Ich höre Louis rufen, kann aber keines seiner Worte verstehen. Es ist, als sei ich Unterwasser und würde langsam in die stille Tiefe treiben. Das letzte, was ich sehe, bevor mir schwarz vor Augen wird, ist Louis, der auf meinen Vater zustürmt und ihn am Kragen packt. Ich sehe all die Farben, versuche mir das Unbeschreibliche zu merken. Und dann tauche ich in die schwarze Tiefe ab.
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Die Dinge, die sie nicht sehen || l.t. ✓
FanficWATTYS WINNER 2020 ❝ I figured it out from black and white. ❞ ©2018, neliery und Moenqueen Mira lebt in einer Welt aus Schwarz und Weiß. Sie kennt keine Farben. Doch eine Person, irgendwo dort draußen, nur eine einzige Person, die darauf wartet, gef...