48th chapter

669 39 0
                                    

Er ist in Sicherheit. Wie ein Echo ertönen diese paar Worte immer und immer wieder in meinem Kopf, doch ich kann sie nicht greifen.

„Lass mich durch, Bobo, ich muss zu ihm!", schnaufe ich den Riesen vor mir an, der jedoch keine Miene verzieht.

„Es geht ihm gut, Mira", versucht nun auch Louis, mich zu überzeugen und zieht mich aus Bobos Armen zurück. Wärme umhüllt mich, als er mich gegen seine Brust drückt.

„Es geht ihm gut, Bobo hat es gesehen", wispert er und ich sehe erneut zu der riesigen Rauchwolke, die immer größer zu werden scheint. Sie sieht so bedrohlich aus, dass es mir schwerfällt, seinen Worten Glauben zu schenken.

Ich winde mich aus seinem Griff und drehe mich zu ihm. „Louis, ich muss ihn sehen."

Mein Seelenverwandter seufzt. „Ich weiß, aber es geht nicht."

Unzufrieden schnaube ich. Wenn ich jetzt anfange zu rennen, würden sie mich nicht einholen. Ich bin viel kleiner und schmaler als sie und zudem noch um einiges wendiger.

Im selben Moment spüre ich den strengen Blick des Dunkelhäutigen auf mir und weiß, dass ich nicht mal einen Meter weit kommen würde.

Voller Missgunst wende ich mich von den zwei Männern ab. Ich bin Einzelkind. Wenn meinem Vater etwas zugestoßen ist, ist meine Mutter völlig allein. Sie hat niemand anderen mehr.

Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter und als ich mich umdrehe, ist Bobo verschwunden.

„Mira", spricht der Helläugige beruhigend und greift nach meinen Händen. „Ich weiß, dass es schwierig für dich ist, aber es gibt auch gute Nachrichten."

Ich kann nicht anders, als laut aufzulachen. „Wieso? Hat etwa einer der Wachmänner überlebt?"

Louis verzieht das Gesicht. Wahrscheinlich gefällt ihm mein Sarkasmus nicht.

„Es ist niemand gestorben, Mira", versichert er mir und drückt meine Hände. „Und das ist auch der Grund, warum die Länder auf unserer Seite sein werden."

Verwirrt blinzle ich auf. „Welche Länder?"

Nun schleicht sich wieder ein Grinsen auf das Gesicht des jungen Mannes.

„Ein guter Teil des Regierungsgebäudes ist abgebrannt. Denkst du wirklich, das bleibt unbemerkt?", redet er und seine Stimme trieft von Stolz. Unweigerlich beginne auch ich zu grinsen.

Schon bevor er weiterspricht, weiß ich, worauf es hinauslaufen wird. Sie werden uns helfen.

„Wir haben die Funken gelegt. Das Feuer, das daraus entstanden ist, mögen sie vielleicht gelöscht haben, aber seine Spuren werden sich noch lange bemerkbar machen", fährt er fort und ich falle ihm in seine Arme. Kann das wirklich wahr sein?

Voller Enthusiasmus wirbelt mich Louis einmal um sich selbst und ich höre mich selbst unbeschwert lachen. Ein Geräusch, das ich schon länger nicht mehr gehört habe.

„Ist das wahr? Kommen sie wirklich?", will ich mich versichern, nachdem er mich wieder abgesetzt hat und der Dunkelhaarige nickt begeistert.

„Sie kommen. Die anderen haben es bereits gehört, die Information über das Feuer verbreitet sich schneller als das Feuer selbst und bald schon wird ganz Europa davon wissen!"

Erneut schließe ich meine Arme um ihn.

Das ist ein Sieg. Wenn ein Regierungsgebäude brennt, ist das nie ein gutes Zeichen, also werden die anderen Staaten genauer hinschauen. Und dann werden sie sehen, was hier alles schiefläuft. Ein Wunder, wie lange unsere Regierung ohne äußere Einschränkungen agieren konnte.

„Das ist wundervoll", schniefe ich und merke erst jetzt, dass meine Augen von einem durchsichtigen schimmernden Schleier überzogen sind. Doch diesmal sind es keine Tränen der Niederlage – es sind Freudentränen.

„Ist es das, Louis? Das Ende?", frage ich ihn und er schaut zu mir herab. Er hält mich so eng, dass ich mich frage, wie ich überhaupt noch atmen kann.

Er antwortet nicht direkt.

„Vielleicht", spricht er dann und lockert den Druck seiner Arme auf mich etwas. „Ich dachte schon so oft, wir wären am Ende, ich habe es mir verboten, zu früh zu feiern."

Ich nicke leicht.

„Louis!", ruft dann eine andere Stimme nach meinem Partner und ich schaue an ihm vorbei, um die Person zu erspähen.

Es ist Ada und ich fühle mich umgehend erleichtert, dass anscheinend auch ihr nichts passiert ist.

„Louis", ruft sie noch einmal und kommt neben uns zum Stehen. Ein Lächeln über beide Ohren ziert ihr Gesicht und ich bin wie gefesselt von diesem Anblick.

Ihre Mimik zeugt nur so von purer Freude, Erleichterung, Hoffnung. Es ist, wie als würde man ein kleines Kind dabei beobachten, wie es angestrengt in seinen Taschen die letzten paar Geldstücke zusammenkratzt und dann glücklich feststellt, dass es doch noch genug Geld für eine weitere Süßigkeit hat. Der Unterschied ist groß, die Emotionen jedoch sind die gleichen.

„Irland weiß bereits davon!", sprudelt es dann aus ihr heraus und augenblicklich spüre ich, wie das letzte Bisschen Anspannung aus Louis' Armen weicht.

„Irland weiß es?", fragt er noch einmal nach und Ada nickt. Er löst seinen Griff um mich und schließt seine zierliche kleine Freundin in seine Arme.

So wie sie da stehen, erinnern sie mich ein wenig an Bruder und Schwester und ich frage mich, ob Louis in Ada eventuell ein Stück seiner Schwester wiedersieht?

„Das ist wundervoll", wiederholt er meine Worte von vorhin und drückt die Kleinere dann ein Bisschen von sich weg. „Trommel die anderen zusammen, Ada, es gibt einen Grund zu feiern!"

Die Angesprochene bewegt ihren Kopf von unten nach oben, dann dreht sie sich zu mir und legt urplötzlich ihre zarten Arme auch um mich. Etwas überrumpelt stehe ich erst steif da, dann entspanne ich mich jedoch und lege ihr auch meine Arme auf den Rücken. Die Erleichterung, die mit einem Mal in der Luft liegt, ist deutlich zu spüren.

„Ich dachte, du möchtest nicht zu früh feiern", erinnere ich meinen Seelenverwandten an seine Worte, nachdem Ada wieder verschwunden ist.

Seine hellen Augen strahlen mich an und ich brauche einen kurzen Moment, um den neuen Funken in ihnen deuten zu können. Es ist diese wahnsinnige Lebenslust in ihnen, die mich aufkeuchen lässt.

Er haucht mir einen sanften Kuss auf die Lippen. Dann flüstert er: „Vielleicht ist es das Ende, Liebling. Vielleicht haben wir es endlich geschafft."

„Nicht das Ende", widerspreche ich sanft, „es ist der Anfang eines ganz neuen Lebens."

Die Dinge, die sie nicht sehen || l.t. ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt