35th chapter

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Meine Stimme schallt durch den Raum und wieder wird es komplett still.

Louis' hellen Augen durchbohren mich und augenblicklich fühle ich mich schuldig. Alles, was ich sage, sind Worte, die allen hier nicht gefallen und doch muss ich sie loswerden. Es ist nun mal die Wahrheit und auch wenn sie – und vor allem auch Louis – sie nicht hören wollen, muss ich sie über alles, was ich weiß, informieren.

„Wir müssen ihm helfen!", ruft Jasper nun energisch und rauft sich die Haare.

Dave und er müssen sich nahe stehen, anders kann ich mir sein aufgebrachtes Verhalten nicht erklären.

Doch ich kann ihn verstehen. Wäre Louis derjenige, der den Alleingang gestartet hätte, wäre ich ebenso in Aufruhr gewesen, wie der junge Mann es nun ist.

„Jasper", sagt mein Seelenverwandter ruhig und geht einige Schritte auf den Angesprochenen zu. „Er wurde gewarnt und hat diese Warnung ignoriert. Wir werden uns nicht wegen seines dummen Verhaltens in Gefahr bringen."

Alle Anwesenden schauen gespannt zu den zwei Streitenden und auch ich frage mich, wie diese Situation ausgehen wird.

Ich kenne Louis mittlerweile gut genug, um die Intension hinter seinem Verhalten einschätzen zu können und ich weiß, dass er es nicht aus Egoismus macht. Er will seine Leute nicht gefährden, nur weil Dave einen Fehler gemacht hat.

Jedoch zeigt Jasper weniger Verständnis, denn sein Kiefer spannt sich an und seine dunklen Augen verengen sich, als er Louis' Antwort hört.

„Einer für alle, alle für einen!", zischt er und sieht dem Anführer furchtlos in die Augen. „Das waren deine Worte!"

Louis' Miene bleibt unverändert und er öffnet den Mund, doch zu meinem Erstaunen ist es Ada, die das Wort ergreift.

„Er hat recht, Louis", spricht sie und läuft einige Meter nach rechts, um näher bei den zwei Männern zu stehen. „Das ist unser Motto. Nur deswegen funktioniert unsere Gemeinschaft und das ist es doch, was uns von ihnen unterscheidet."

Bei ihren Worten zeigt sie mit ausgestrecktem Finger anklagend auf mich und sofort fühle ich mich angegriffen.

Dabei dachte ich eigentlich, sie und Bobo wären inzwischen friedlicher mir gegenüber gestimmt.

Augenblicklich liegen alle Blicke wieder auf mir und ich schlucke kräftig.

Ich fühle mich in die Ecke gedrängt und an der Art, wie sie mich angucken, erkenne ich, dass sie mich als Feind sehen. Doch ich bin nicht ihr Feind.

„Ich lasse mir die Spritze geben", sage ich daher und löse damit lautes Raunen in dem Raum aus.

Wenn es das braucht, damit sie mich endlich akzeptieren, dann werde ich diesen Preis zahlen.

Ich habe mich für Louis und damit gegen meine Familie entschieden.

Die Leute, die mich bis gerade eben noch so vorurteilshaft angefunkelt haben, sind nun meine neue Familie, und für die Familie tut man bekanntlich alles.

„Was?", unterbricht die schneidende Stimme meines Seelenverwandten jedoch die Unruhe und sofort hören ihm alle wieder gespannt zu.

Ich geselle mich nun mit langsamen Schritten erneut neben Ada und somit vor Louis, um ihm meinen Plan zu erklären.

„Wenn ich mich stelle, wird das einen riesigen Aufruhr erzeugen. Somit habt ihr eine gute Chance, ins Regierungsgebäude reinzukommen und Dave rauszuholen", spreche ich und sehe, wie sich das Gesicht des Helläugigen immer unzufriedener verzieht.

„Es ist noch immer irrsinnig, das will ich nicht bestreiten, aber ich kann euch zumindest eine Chance bieten", beende ich meinen Vortrag und spüre Adas überraschten Blick auf mir.

Sie hat wohl nicht damit gerechnet, dass ich mir für die Befreiung eines Mannes, den ich noch nicht einmal kenne, das Wundervollste in meinem Leben nehmen lasse, doch ich stecke nun mal voller Überraschungen.

„Mira", flüstert Louis, doch ich hätte ihn fast nicht verstanden, da nach meinen Worten aufgeregtes Gemurmel die Stille brach.

„Ich werde mich nicht wirklich stellen", sage ich leise und lächele ihn aufmunternd an. „Ich gehe ins Gebäude – allein mein Erscheinen wird schon für Unruhe sorgen – mache ein bisschen Wirbel um mich und gehe dann mit euch wieder raus."

Ich lüge ihn an. Die Zeit, die ich dadurch rausschlagen würde, wäre einfach viel zu kurz und es würde schlichtweg nicht reichen.

Allerdings weiß ich, dass Louis niemals zustimmen würde, wenn er von meinen wirklichen Absichten wüsste.

„Es ist riskant", wispert er und kommt auf mich zu und auch, wenn gerade laute Stimmen um uns herum auf uns ein dröhnen, höre ich nur Louis' leisen Worte.

Er glaubt mir.

„Einer für alle, alle für einen", antworte ich ebenso leise und lehne meine Stirn gegen seine. „Es wird schon klappen. Ich gehöre jetzt zu euch."

Sein Kopf bewegt sich ganz leicht – fast nicht spürbar – von unten nach oben und ich weiß, dass er mir vertraut. Dass er mir so vertraut, dass er das Leben seiner Leute in meine Hände legt.

Nachdem in einer lautstarken Diskussion der Plan noch ein wenig verfeinert wurde, befinden wir uns nun zu zweit in Louis' kleinem Wohnwagen, wie er diese Wohnung damals bezeichnet hat.

Während er mir einen Tee zubereitet, haften meine Augen auf seinem Rücken und ich genieße den Anblick, der sich mir bietet, denn ich weiß, dass sich mit der Spritze alles ändern wird. Die Farben werden verblassen und Louis wird für mich nur noch so aussehen wie auch für alle anderen. Schwarz und weiß.

Der Mann mit den für mich unbeschreiblichen Augen dreht sich um und lächelt mich an. Allerdings ist es ein trauriges Lächeln, da auch er weiß, dass der Plan zum Scheitern verurteilt ist.

Und außerdem weiß er ebenso gut wie ich, dass er insgeheim immer noch nicht damit einverstanden ist.

Er drückt mir den Tee in die Hand und setzt sich neben mich, bevor er nachdenklich den Blick schweifen lässt und anschließend bei mir landet.

„Du musst das nicht tun", spricht er wieder ganz leise und schüttelt zur Verstärkung leicht den Kopf.

Ich stelle meinen Tee ab, drehe mich nach rechts und nehme sein Gesicht in meine beiden Hände.

„Ich will es aber tun", antworte ich, bestimmt aber ruhig, und sehe in seine wunderschönen Augen, die schon bald ganz anders aussehen werden. „Ihr seid jetzt meine Familie. Du bist jetzt meine Familie."

Louis lächelt zum erstmal Mal an diesem Tag glücklich bei meinen Worten, er beugt sich nach vorne und seine Lippen treffen auf meine. Sofort erwidere ich den Kuss und wieder mal entfacht seine Berührung ein Feuerwerk in mir.

Der Kuss wird stürmischer und seine Hände fahren zu meinen Seiten, bevor er mich sanft nach hinten drückt und ich mich mit den Rücken auf die harte Matratze des ausklappbaren Bettes fallen lasse.

Noch nie zuvor habe ich etwas derartiges gemacht, doch meine Unsicherheit verschwindet, als ich Louis' federleichten Berührungen auf meiner Haut spüre. Seine Hände fahren meine Taille ganz vorsichtig auf und ab, während meine sich in seinen Haaren wiederfinden und diese durcheinander bringen – ebenso wie er an dem Tag, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind, mein Leben völlig durcheinandergebracht hat.

Und in diesem Moment wird mir einiges klar.

Ich habe kein Problem damit, mich auf so engem Raum zu befinden, kein Problem damit, das zu verlieren, was das trostlose Schwarzweiß in meinem Leben unterbricht und kein Problem damit, mich gegen meine Eltern zu wenden, weil ich ihn liebe.

Ich hatte kein Problem damit, mich in einen Rebellen zu verlieben, weil es Louis ist, für den mein Herz schon von vornherein bestimmt ist.

Die Dinge, die sie nicht sehen || l.t. ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt